Über das Innen und das Außen der Gesellschaft
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE Der Beginn ist verblüffend simpel: Shula (Susan Chardy) fährt nachts auf einsamer Straße, trägt eine maskenhafte Sonnenbrille und lauscht poppigem Radio. Abrupt stoppt sie und wir werden auf der Gegenfahrbahn eines leblosen Körpers gewahr. Es ist ihr Onkel Fred, der auf unbekannte Weise das Zeitliche segnete. Im Mittelpunkt der folgenden Geschichte steht aber nicht der kriminalistische Mordfall, vielmehr entwirft sich eine lebhafte Satire. Shula, währenddessen übrigens wohl nach einer Party in einem bizarren Marshmallow-Man-Outfit steckend, ruft ihren Vater an. Der begegnet ihr nicht mit dem nötigen Ernst, dann kreuzt ihre betrunkene Schwester auf und die Polizei kann den stundenlang herumliegenden Leichnam erst am nächsten Morgen abholen. So komisch der Anfang auch sein mag, sodann entwickelt sich „On Becoming a Guinea Fowl“ zu einem Charakterdrama, das sowohl formell als auch inhaltlich einem Triumphzug gleicht.
Für Drehbuch und Regie zeigt sich die sambisch-walisische Filmemacherin Rungano Nyoni verantwortlich. 2017 feierte sie ihr mit dem BAFTA ausgezeichnetes Debut mit „I am not a witch“, in welchem sie eine modern-ausbeuterische Hexenjagd in Sambia nachstellte. Auch „On Becoming a Guinea Fowl“ ist eine britisch-sambische Koproduktion, wobei sich überdies A24 eingeklinkt hat. Das vergleichsweise junge Produktionsstudio gilt als Leuchtturm für Arthouse-Werke, hat sich zuletzt mit vielbeachteten Oscarlieblingen im Mainstreamkino etabliert. Glücklicherweise vergisst A24 nicht ihr uriges Brot-und-Butter-Geschäft und vollendet weiterhin solch anspruchsvolle Independent-Projekte.
Was macht Nyonis Werk interessant? Filmanalytisch zieht sich eine scharfe Trennlinie zwischen dem Innen und dem Außen. Zu Beginn bereiten uns die filmischen Elemente auf die künftige Symbolik der Handlungsebene vor. Zum Beispiel Musik aus dem Radio zwischen Diegese und Nichtdiegese, mal hören wir die Songs aus der Figurenperspektive, mal klingen sie nur für uns Zusehende. Mal innerhalb des Films, mal außerhalb. Analog die Bildsprache, die über geringe Tiefenschärfe das Innere der Personen von der Außenwelt trennt. Passend dazu erleben wir Träume, bei denen sich Shulas Inneres nach Außen stülpt. Auch das Sounddesign unterstützt diesen Umstand, wenn wir das Klopfen an die Autoscheibe erst von innen, Sekunden später von außen hören. Generell spielt das Sounddesign eine gewichtige Rolle. Mit zunehmender Spieldauer verheißen atonale, metallische Klänge düstere Erkenntnisse der Vergangenheit. Ton, Bild, Schnitt und Inhalt bilden eine kohärente Einheit: das Medium Film in Reinform.
Worauf soll das Publikum vorbereitet werden? Nach dem Tod des Onkels durchläuft Shula mitsamt ihrer zahllosen Familienmitglieder die tagelange, traditionelle Beerdigungsprozedur in Sambia. Ist Shula Teil der konservativen Familie oder bewegen wir uns mit ihr außerhalb der Sphäre? Ist die rituelle Programmatik der Beerdigung noch Teil der modernen Welt, ist sie drin oder draußen? Das Innen und das Außen treffen sich hier im Inhalt wieder und bilden die beiden Pole, um die herum sich die Personen bewegen. Die zweite Filmhälfte ist ebenso ein angemessener Kulturschock. Nicht nur wegen der seltsamen Eigenheiten einer sambischen Trauergemeinde, auch wegen der starken Matriarchinnen und gleichermaßen chauvinistischer Männerfiguren. Während die Frauen den dogmatischen Regeln nachgehen, lassen sich die älteren Herren gerne bedienen. Doch selbst in den anachronistisch-absurden Momenten, wenn alle gemeinsam laut weinen oder wenn Shula das Duschen bis zum Begräbnis verboten wird oder wenn die Witwe nur noch „wie der Tod“ durchs Haus kriechen darf, selbst in diesen Momenten entsteht Heiterkeit, die weder geschmacklos noch trivial ist. Ein schmaler Grat zwischen Ernst und subtilem Witz, der meisterhaft präsentiert wird.
Es ist auch ein Film über Gegensätze – zwischen Generationen und zwischen Geschlechtern. Shula wirkt wie ein Fremdkörper in dieser Welt und doch ist sie mittendrin, muss schließlich ein verdrängtes Trauma ergründen, das die Familie zu zerreißen droht. Wieder finden wir das Narrativ: Ein Geheimnis, das vom Verborgenen an die Oberfläche tritt, vom unerkannten Innen zum offenen Außen. Final bemüht sich die Familie um eine Aufarbeitung vergangener Geschehnisse. Statt Resignation und Ignoranz, vermehrt Verantwortung und Diskurs. Für mehr Kommunikation steht auch das titelgebende Guinea Fowl, das Perlhuhn. Diese Hühnerart mit unnachahmlich lautem Geschrei bei drohendem Unheil ist als Wächter der Natur bekannt. Und auch Shula entwickelt sich zur Wächterin der familiären Opfer.
Fazit: Ohne Pathos oder Moralisierung, doch mit formeller Präzision, herausragender Bildsprache und ergreifendem Sound-Score erzeugt Rungano Nyoni ein intelligentes Soziogramm über die lachenden und weinenden Augen einer zerrissenen Familie. „On Becoming a Guinea Fowl“ ist ein schwarzhumoriges Stück über den Umgang mit dem Tod und über Generationenkonflikte. Über den Unterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Ein Unterschied, der essenziell für unser Verständnis als individualisierte Menschheit ist. Ein satirisches Drama in intensiver, dichter Atmosphäre, das gerade mit dem Hauptpreis beim zweitgrößten deutschsprachigen Filmfestival in Zürich (ZFF) ausgezeichnet wurde. Die Jury in Zürich endete ihre Laudatio mit den Worten: „Rungano Nyoni wird Hollywood erobern“. Dem ist nicht zu widersprechen und nichts hinzuzufügen.
|