Babygirl

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Forumseintrag zu „Babygirl“ von Andretoteles

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Andretoteles (30.01.2025 12:05) Bewertung
Male Gaze, Female Gaze, Human Gaze
Exklusiv für Uncut
Nicht nur Kritikerkollege Wolfgang M. Schmitt moniert es unablässig, auch die niederländische Filmemacherin Halina Reijn ist sich sicher: im aktuellen Kino „ist die Sexualität verschwunden.“ Und das stimmt! Neben der etwas schwammigen Eigenwahrnehmung unterstützen Zahlen die These abnehmender Erotik. Findige Leute entwickeln mathematische Messparameter und siehe da: von den erfolgreichsten 250 fiktionalen Live-Action-Produktionen hatten zur Jahrtausendwende nur 20% keinerlei Szenen mit sexuellem Inhalte im Angebot, während heutzutage knapp die Hälfte aller Filme ohne jedwede Erotik/Liebe/Sinnlichkeit auskommt. Über die Hintergründe lässt sich vortrefflich streiten. Ist es das Überangebot an Internetpornografie? Oder die Gen Z, die andere Themen verfilmt sehen möchte? Oder die Globalisierung, die Nacktheit auf einigen Märkten von vornherein ausschließt? Oder aber einfach ein kultureller Wandel mit höherer Sensibilität für Körper und Geschlechter?

„Babygirl“ wagt den Schritt unverhohlen in diesen empfindlichen Bereich und ist eine moderne Deutung sexueller Fantasien, geprägt von Macht und Gehorsam. Im Mittelpunkt steht Romy (Nicole Kidman), Chefin eines gewaltigen Tech-Robotik-Unternehmens, Ehefrau des konservativ auftretenden Jacob (Antonio Banderas) und Mutter zweier Kinder. Was im Vordergrund perfekte Familienidylle fingiert, bedrückt Romy in ihrer Tiefenpsyche. Unerfüllte Wünsche, unerwiderte Praktiken – und am schwerwiegendsten: kein Höhepunkt. Nach dem Sex mit Jacob muss sie heimlich masturbieren und eigentlich sehnt sie sich nach gemäßigtem Sadomasochismus. Regisseurin Halina Reijn (auch verantwortlich für die schräge A24-Horror-Sozialsatire „Bodies Bodies Bodies“) legt einen Fokus auf den weiblichen Orgasmus und bebildert ihn so authentisch wie möglich. Übergreifend kann der sexuelle Höhepunkt als Erlösung für Romys innere Qualen gelesen werden, für ihre Ängste und auch den gesellschaftlichen Druck. Ein Druck, der Gegensätzlichkeit widerspiegelt. Den Kontrast zwischen der sozialen Norm einer möglichst hygienischen Familie und dem Anderssein, dem Abweichen von diesen vermeintlichen Standards.

Später findet sie ihren Resonanzraum im Praktikanten Samuel (Harris Dickinson). Mit ihm überbrückt „Babygirl“ enorme soziologische Grenzen: Familienstand, Alter und wirtschaftliche Position divergieren stark zwischen Samuel und Romy. Ihre Affäre, ihre Körperlichkeit, das Schauspiel der beiden prägt und trägt den Film. Beide straucheln gemeinsam durch Konflikte, navigieren durch Höhen und Tiefen ihres erotischen Abenteuers. Sie ringen um Consent und steuern durch Unsicherheit, Verletzlichkeit und Scham. Wir erleben den komplexen Reichtum menschlicher Empfindungen und diese Feinfühligkeit für Emotionen findet sich selten im Kino, abseits klassischer Gut-Böse-Dualismen oder Macht-Gehorsam-Plattitüden. Es ist Samuels beachtliches Reflektionspotential, das die Klischeephalanx des toxisch-triebhaften Mannes durchbricht. Und es ist gerade Nicole Kidman, der Reijn das Drehbuch auf den Leib schrieb, die hier mit einer physischen Performance herausragt. Geholfen haben viele Einzelgespräche zur mentalen Öffnung sowie die heutzutage üblichen Intimitätskoordinatoren, die bei der Inszenierung erotischer Szenen unterstützten.

Nur ein Versprechen kann die Regisseurin nicht einhalten. Mitnichten handelt es sich um europäisches Kino, auch nicht um kompromisslose Röntgenblicke. Dem Vorwurf der Künstlichkeit in einer Mainstream-verträglichen Hochglanzumgebung enteilt sie weder durch ihre stilisierte Ästhetik noch durch das elitäre Wohlstandsmetier der Hauptfiguren. In seiner mechanischen Konstellation mit einer für das Sujet zu großen Distanz zu den Figuren gleicht die Filmform dem Roboter-Unternehmen der Protagonistin. Das mag auch eine Botschaft in dieser durchökonomisierten Welt sein, passt zu einem runden Psychogramm nicht immer. Dafür dreht sie den erstmals 1975 von Laura Mulvey propagierten und berühmten Male Gaze um. Sie entwendet den männlichen Blick und gibt ihn zur Frau, damit diese aus ihrer (in der Filmgeschichte) jahrzehntelangen Objektivierung fliehen kann – und tappt nicht in die Falle, den Spieß einfach umzudrehen. Aus dem Male Gaze wird kein plumper Female Gaze, sondern ein Human Gaze. Das ist auch Hommage an Selbstliebe und innere Befreiung, an das Menschsein in all seinen Dimensionen.

Fazit: In „Babygirl“ kehrt die tabuisierte Erotik ins Kino zurück, Regisseurin Halina Reijn verleiht ihr zugleich eine feinfühlige Korrektur mit der Dekonstruktion männlicher Fantasien. Getragen vom mutigen Körper-Theater der starken Hauptcharaktere Nicole Kidman und Harris Dickinson gipfelt deren intime Affäre in intensive Familiendramen. Abgesehen von repetitiven Momenten in entschärften, manierierten Hochglanzbildern ist „Babygirl“ sensibles Kino über Macht und Missbrauch. Nie waren Milch und Krawatten erotischer, selten wurde der weibliche Orgasmus so zelebriert wie in diesem sehenswerten Beziehungsporträt.
 
 

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