Für immer hier

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Forumseintrag zu „Für immer hier“ von Maverick87


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Maverick87 (25.10.2024 15:29) Bewertung
Filmische Aufarbeitung eines brasilianischen Justizskandals und einer tragischen Familiengeschichte
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Eine Mutter und ihre fünf Kinder müssen mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Vaters während einer unterdrückenden Diktatur fertigwerden. Auf einer wahren Geschichte beruhendes, bedrückendes Familiendrama von Walter Salles.

Rio de Janeiro 1970: die brasilianische Militärdiktatur hat das Land fest im Griff, bewaffnete Soldaten filzen und demütigen gerne mal junge Leute, die einfach nur mit dem Auto umherfahren, Marihuana rauchen und Popmusik hören. Unweit des legendären Copacabana-Strandes lebt zu dieser Zeit die Familie Paiva in gehobenen Verhältnissen. Familienvater Rubens (Selton Mello), bis vor einigen Jahren Abgeordneter des brasilianischen Kongresses, arbeitet als Ingenieur und hat mit seiner Frau Eunice (Fernanda Torres) fünf Kinder, von denen das älteste, Tochter Veroca (Valentina Herszage), die leidenschaftlich gerne fotografiert und das Familienleben dokumentiert, mit Freunden der Familie nach London reist – aus Sicherheitsgründen. Sohn Marcelo (Guilherme Silveira) schwatzt seinem Vater einen zugelaufenen Hund auf, den sie Pimpão nennen, um das leibliche Wohl und die Sauberkeit kümmert sich eine Haushälterin. Das idyllische Leben der Paivas nimmt ein jähes, schockierendes Ende, als eines Tages bewaffnete Männer auftauchen und Rubens zum Verhör abholen, während die Familie überwacht und abgeschottet wird. Später werden auch Eunice und ihre zweitälteste Tochter Eliana verhaftet und mehreren brutalen, zermürbenden Verhören unterzogen, bei denen ihnen und Rubens die Nähe zu kommunistischen Regimegegnern unterstellt werden. Als Eunice auch nach ihrer Entlassung einige Tage später kein Lebenszeichen von Rubens erhält, versucht sie verzweifelt, die Hintergründe seines Verschwindens und seinen Verbleib in Erfahrung zu bringen. Gleichzeitig muss sie aber auch die vom Verlust des Vaters gebeutelte Familie zusammenhalten.

Der brasilianische Filmemacher Walter Salles, der mit seinen preisgekrönten Filmen „Central Station“ (1998), „The Motorcycle Diaries“ (2004) über einen jungen Ché Guevara und seiner Jack Kerouac-Verfilmung „On the Road“ (2012) international großes Ansehen erlangte, kehrte für dieses auf realen Ereignissen beruhende Drama in seine brasilianische Heimat zurück und widmet sich einem der dunkelsten Kapitel seines Heimatlandes – der Militärdiktatur von 1964 bis 1985, während der politische Gegner systematisch verfolgt, verhaftet und ermordet wurden. Eines der prominentesten Opfer war der entschieden regimekritische Kongressabgeordnete Rubens Paiva, ein Mann, der sich als Ingenieur ins Zivilleben zurückgezogen hatte, als er im Januar 1971 verhaftet und – nach der offiziellen Sterbeurkunde, die seiner Witwe Eunice erst 25 Jahre später offiziell ausgestellt wurde – ermordet wurde. Ein symbolischer Akt für die inzwischen zur Anwältin für Menschenrechte aufgestiegene Ehefrau und Mutter, der ihr jahrelanges Martyrium um Rubens‘ Tod endlich beendete. Die realgeschichtliche Dimension macht den Film umso beklemmender und emotionaler. Dass so eine himmelschreiende Ungerechtigkeit so ohne weiteres und lange Zeit ohne Sanktionen in einem der bevölkerungsreichsten Länder der Welt verübt werden konnte, lässt einem regelrecht das Blut in den Adern gefrieren. Die Bilder der echten Familie, die der Produktion zur Verfügung gestellt wurden, werden so zu wehmütigen Erinnerungsstücken einer Familie, die von sinistren politischen Mächten brutal auseinandergerissen wurde. Die Vorlage für das Drehbuch, für das die Autoren Murilo Hauser und Heitor Lorega bei den Filmfestspielen in Venedig ausgezeichnet wurden, lieferte Marcelo Rubens Paiva, der seine bewegte Familiengeschichte – er selbst ist seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt – 2015 in einem Buch verarbeitete.

Salles inszeniert dieses Drama behutsam, fast schon mit einer dokumentarischen Ästhetik. Er driftet dabei auch nie ins Effekthascherische oder gar Sensationalistische ab, sondern erzählt die Geschichte ohne explizite Gewalt, aber mit einer stets präsenten, latenten Brutalität, die eben auch durch die Ungewissheit ob des tatsächlichen Schicksals von Rubens aufwühlt. Wenn die Familie, besonders Eunice, von der Verhaftung überrumpelt wird, entfesselt das nicht nur eine Spannung auf politischer Ebene, sondern eben auch auf emotionaler. Und das ist vor allem der überragenden Hauptdarstellerin Fernanda Torres zu verdanken, die hier eine wahrlich meisterliche Performance an den Tag legt, die die verschiedenen Facetten ihrer historischen Figur bravourös offenlegt. Eine Ehefrau und Mutter, die im Angesicht des Terrors, der über ihre Familie hereinbricht, nach außen hin Mut und Stärke transportiert, in intimen und besonders fragilen Momenten vor einer emotionalen Zerreißprobe steht. Es ist faszinierend, Torres dabei zuzuschauen. Am Ende des Films hat dann auch Torres‘ berühmte Mutter, die brasilianische Schauspiellegende Fernanda Montenegro, einst für „Central Station“ oscarnominiert, als betagte Eunice einen hochemotionalen, wortlosen Gastauftritt.

Ein intensives, aufrüttelndes Drama, stark gespielt besonders von Torres und ein wichtiges, weil politisch brisantes Zeitdokument der brasilianischen Militärdiktatur, deren Aufarbeitung viel zu lange gedauert hat und Rubens Paiva späte Gerechtigkeit widerfahren lässt, indem es ihm und seiner Familie ein filmisches Denkmal setzt.
 
 

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