Anora

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Forumseintrag zu „Anora“ von chrosTV

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chrosTV (06.11.2024 11:57) Bewertung
Zwischen Sexkomödie und Seelenstriptease
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
„Dieser Preis sei allen Sexarbeitenden da draußen gewidmet": Worte, mit denen der sichtlich berührte Sean Baker im Mai bei den Filmfestspielen von Cannes die Goldene Palme entgegennahm. Es ist ein Berufsfeld, das in den Filmen des 53-jährigen Amerikaners bisher immer eine tragende Rolle eingenommen hat: lebhafte Sozialdramen, welche der Stigmatisierung der Erotik-Welt, nicht ohne Grund das älteste Gewerbe seit Menschengedenken, ein Ende zu setzen versuchen. Geschichten über soziale Randgruppen, Underdogs, die auf der großen Leinwand selten die erste Geige spielen dürfen. Diese Underdog-Position hatte bis kürzlich auch Baker selbst in Hollywood inne. Einladungen zu prestigeträchtigen Festivals gab es manche in der Vergangenheit, ja, die großen Preise waren allerdings ausgeblieben. So wohlwollend „The Florida Project“ oder „Red Rocket“, warmherzige Porträts komplexer amerikanischer Außenseiterfiguren, auch seitens der Kritik aufgenommen wurden, in ihrer Machart sind die Filme zu forsch, zu ungefiltert, zu wenig plakativ, um wohlstandsverwahrloste Starjurys einstimmig abzuholen. Das glaubte man zumindest. Denn mit „Anora“ hat der Menschenversteher wohl einen universellen Nerv getroffen, endlich die Bühne erhalten, die er lange schon verdient gehabt hätte. Und das mit einem Film, der - mehr noch denn je - eine Lanze bricht für Sexarbeit und eben die Menschen, die damit ihr täglich Brot verdienen. Der zu Unrecht marginalisierten und verschmähten Profession wird die Würde zurückgeschenkt.

Eine Stripperin zieht das große Los

Wie Anora (Mikey Madison), von ihrem Umfeld schlicht „Ani“ genannt, mit ihrer Kundschaft umzugehen hat, weiß die junge Stripperin nur zu gut. Mit schwungvollen Tanzeinlagen und maximalem Charisma bringt sie ihre zuhauf männlichen Voyeure für üblich zum Strahlen. Doch da gibt es plötzlich einen Jungen, der von den Künsten der 23-Jährigen einfach nicht genug bekommen kann. Das geht so weit, dass Vanya (Mark Eydelshteyn), ein postpubertierender Bursch aus Russland, die Sexarbeiterin bald schon für private Zwecke bucht. Geld hat der leidenschaftliche Gamer, von der Konsole bekommt ihn nicht mal ein Lapdance weg, genug: er ist, so stellt sich heraus, Sohn einer millionenschweren Oligarchenfamilie. Die bezahlten Stunden der Zweisamkeit genießt man in vollsten Zügen – auch Ani findet Gefallen am Pomp und Pracht der Oberen Zehntausend. Für zwei Wochen hat er die junge Dame bezahlt, danach soll Schicht im Schacht sein, für den Russen soll es wieder zurück in die Heimat gehen. Dem wäre zumindest so gewesen, würde dem Spätreifling nicht ein spontaner Geistesblitz kommen. Was, wenn er um die Hand seiner Heimstripperin anhält? Könnte er dann nicht bedenkenlos in den USA bleiben? Der Plan scheint beiden Parteien zuzusagen: Ani wittert das große Geld. Die Blitzhochzeit in Vegas lässt nicht lange auf sich warten. Es folgt ein verschwenderischer Rausch der Exzesse – eingebettet in schwungvoll inszenierte, neonglitzernde Analogaufnahmen. Doch dann, oh Schreck, klingelt es wie wild an der Tür der Luxusvilla. Mama und Papa sind von der Frischvermählten ihres Sohnes alles andere als begeistert und wollen die Ehe, koste es, was es wolle, annullieren. Zur Lösung des Problems schickt man ein Trio aus persönlichen Handlangern ins Privatanwesen, Handgreiflichkeiten inklusive. Aus der Traum?

Dekonstruktion des amerikanischen Traums - komisch wie tragisch

Für knapp eine Stunde lullt Sean Baker das Publikum gekonnt ins Aschenputtelmärchen seiner Protagonistin ein. Dem Glitzer und Glamour, dem Schampus und den Schmuck kann auch der Zuseher nicht widerstehen. Dieser vitale Rausch der Oberflächlichkeiten bereitet immense Freude, man möchte, dass es kein Ende nimmt, zelebriert gemeinsam mit der Hauptfigur ihr neues Glück. Dass das echte Leben allerdings eher selten Märchen schreibt, daran erinnert die Tragikomödie in ihrer zweiten Hälfte. Der puren Ekstase folgt traurige Gewissheit. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, eine nächtliche Odyssee durch ein New York, wie man es filmisch zuvor nie gesehen hat. Man hetzt durch Bars, Shops und Bordelle, irgendwann ertönt „All the Things She Said“ von T.A.t.U. Die Interpretinnen dieser unvergesslichen 2000er-Pop-Ballade sind, wie so vieles in diesem Film, russischer Herkunft. Schadenfreude, Spaß und Schabernack bleiben erhalten, wenngleich sich im Hintergrund eine bittere Realität abzeichnet, die unsere Titelheldin einzuholen droht. Eine, in der Sexarbeitende als Ware empfunden wären, als entindividualisierte Tanzäffchen, die abrufbereit zu sein haben, wann immer man sie braucht, Schandwesen, die keiner menschlichen Blicke würdig seien. Baker gelingt es in seinem empathischen Meisterstück, sich zunehmend in die Lage von Ani hineinzudenken. Jede Emotion wird in voller Intensität auf den Zuschauer transportiert: Freude, Verzweiflung, Liebe, Zorn. Gibt es rare Momente ungestellter Zwischenmenschlichkeit, wird einem genuin warm ums Herz. Werden Tränen vergossen, tun diese besonders weh. „Anora“ entwirft, furios gespielt und bebildert, das dreidimensionale Porträt einer Sexarbeiterin, ohne zu infantilisieren, ohne herkömmliche Opfernarrative zu bedienen. Ein Film voller Menschlichkeit über eine Branche, der diese selten zugestanden wird. Und was ist letztlich humaner als das Imperfekte?
 
 

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