Den Prinzen um jeden Preis
Wie angelt man sich einen Millionär? Da gibt es unterschiedliche Wege zur praktikablen Glückseligkeit. In den Fünfzigern setzten Marylin Monroe und Lauren Bacall ihre äußerlichen Reize dafür ein, an einen reichen Ehemann zu kommen, um sich darauffolgend von diesem aushalten zu lassen. Da war noch üblich, dass der Mann die Existenzen der Dame sichert – heute längst überholt und anmaßend. Anfang der Neunziger dann die Romanze schlechthin, vorhaltend für die nächste Dekade: Pretty Woman, eine Art My Fair Lady für die Großstadtgeneration, die wohl keine Berührungsängste mehr mit dem ältesten Gewerbe der Welt hat und sich nicht mehr angewidert wegdreht, wenn reizvoll gekleidete Damen notgeilen Herren stundenweise ihr Geld entlocken. Julia Roberts beerbte Audrey Hepburn und angelte sich nicht Rex Harrison, sondern den damals schon graumelierten Richard Gere, auch er noch chauvinistischer Gentleman der alten Schule, der glaubt, Frauen erst zur Gesellschaftsfähigkeit erziehen zu müssen.
Und dennoch: Das Publikum hat den Schmachtfetzen mit Rhythmen von Roxette geliebt. Tränen in den Augen, weiche Herzen, Träume davon, so ein Glück mal selbst zu erfahren. Dreißig und ein paar zerquetschte Jahre später – Roberts und Gere sind immer noch im Business, die eine mehr, der andere weniger – sind die Parameter zwar ähnliche, aber doch auffallend andere. In Sean Bakers mit der Goldenen Palme prämierten, fast schon nihilistischen Tragikomödie Anora verfällt namentliche Stripperin, die eigentlich nur Ani genannt werden will, den jugendlichen Reizen eines aufgeweckten, Timothée Chalamet nicht unähnlichen Oligarchensohnes. Die Russen sind also im Spiel, die unbesonnene Jugend stellt alles auf den Kopf, die Sehnsucht nach Liebe und Wohlstand erfüllt sich in einem bequemen Kapitalismus, der mit ausreichend Sex den Himmel auf Erden beschert. Aus dem Rotlichtmilieu in eine niemals enden wollende Party- und Vergnügungswelt. Da war Richard Gere schon einer, der, die Hörner längst abgestoßen in einer gnadenlosen Business-Welt, genau wusste, was er einer wie Julia Roberts bieten konnte und was nicht. Erfahrenheit nennt man so etwas. In Anora haben die beiden Liebenden nichts davon. Und wäre Wanja vielleicht nicht der Filius aus reichem Hause, der, wie Gere eben, sein Escort-Girl gleich wochenweise bucht, sondern einer, der erahnen hätte können, was Verantwortung eigentlich bedeutet, wäre Anora vielleicht in genauso einem kitschigen Filmmärchen gelandet, wie wir es bereits kennen und lieben.
Sean Baker allerdings findet diese zuckersüßen Zustände grauenerregend. Sein Publikum geht ihm aber insofern auf den Leim, da er es glauben lässt, wie wären in einem Kino der Happy Ends, das sich der gerechten Ordnung von Liebenden unterwirft und sie gewinnen lässt. Romeo und Julia haben längst gezeigt, dass das nicht sein muss. Doch sowohl zum Glück als auch zur Tragödie gehören immer zwei, die dieselben Sehnsüchte leben. Anora erteilt den Stereotypen dabei die Rundum-Faustwatsche mit KO-Garantie, während Mikey Madison sich dabei gebärdet wie eine Furie, die um ihr Glück, ihr Leben und ihre Achtung ringt, mit Fingernägeln, Fußtritten und dem schrillen Schrei einer Sirene. Für die Qualität ihrer Performance gibt die Schauspielerin alles, es ist eine Tour de Force, der sie sich stellt, soar noch die letzten Meter. In diesen Sog des wahrhaften Schauspiels – und ja, ich wage die Prognose, Madison könnte nächstes Jahr bei den Oscars ganz groß mitmischen – geraten auch allerlei Nebenrollen. Nicht nur Mark Eydelshteyn, der den party- und sexhungrigen Wanja verkörpert, sondern auch jene, die die Entourage des russischen Oligarchen antanzen lassen. Sean Baker gerät dabei in ein virtuoses, dramaturgisches Crescendo und entfesselt das dichte Spektakel eines emotional aufgeladenen, verzweifelten Konflikts. Was dieser bereits in The Florida Project und zuletzt im satirischen Red Rocket begonnen hat, nämlich zu zeigen, wie reale soziale Konflikte ihre eigene Dynamik erzeugen, führt er nun an einen Höhepunkt, der in Baker ein enormes Maß an Menschenkenntnis und ein Gefühl für menschliche Desaster voraussetzt. Iñárritu, Tarantino, Scorsese – auch sie beherrschen das Einmaleins der Konfliktdarstellung. Baker drängt sich mit dem großen Beispiel eines virtuosen Kinoerlebnisses in den Vordergrund, ohne dass diese als effektive Tragikomödie genügt.
Die schnöde Chronik des Missbrauchs von Liebe, Vertrauen und Erwartung findet unendlich zarte, verletzliche Momente zwischen Sex, drogengesättigtem Spaß und der unendlich anmaßenden Arroganz der Kapitalisten. Es ist ein Kampf gegen die Formeln des romantischen Kinos. Das Erwachen einer desillusionierten Pretty Woman aus einem einlullenden Albtraum ist nicht nur bitter, sondern vor allem bittersüß. Anora ist somit ein hinreißendes, ambivalentes Erlebnis. Und ja, vielleicht ist es einer der besten Filme des Jahres.
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