Aftersun

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Forumseintrag zu „Aftersun“ von UR_000


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UR_000 (05.11.2022 11:53) Bewertung
Homevideo-Nostalgie im Cluburlaub mit Daddy Cool
Charlotte Wells präsentiert mit „Aftersun“ nach mehreren Kurzfilmen ihr Langfilmdebüt. Das gelungene Ergebnis feierte bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere.

Sophie, Anfang 30, blickt anhand von alten Camcorder-Aufnahmen auf einen gemeinsamen Urlaub mit ihrem Vater Calum zurück. Dieser Clubaufenthalt in der Türkei war eine der wenigen Gelegenheiten gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen, da Sophies Eltern getrennt leben. Für die damals 11-Jährige ist es ein Abenteuer, das sie mit ihrer Kamera einfängt. Nicht nur die Vater-Tochter-Zeit, sondern auch die anderen jungen Urlauber*innen führen das Mädchen in diesem Sommer auf ihren Weg Richtung Erwachsenwerden.

Wells schickt das Vater-Tochter-Gespann auf eine Urlaubsreise, die denkbar schlecht beginnt. Calum (Paul Mescal, „Normal People“) kann sich nur das günstige Paket leisten und die Buchung geht komplett schief: Die beiden bekommen ein Zimmer mit Doppelbett. Ein leises Unbehagen ob dieser unfreiwilligen Intimität macht sich breit. Allerdings lässt sich die Zimmersituation nicht ändern. Dieser dramaturgische Kunstgriff, der Enge und Nähe spürbar macht, unterstützt die emotionale Dringlichkeit der Gespräche zwischen Calum und seiner Tochter Sophie (Frankie Corio). Diese Atmosphäre wird ebenso mit den Bildern der Filmkamera verdeutlicht, die nah bei den Figuren bleibt. Manchmal wird die Intimität mit dem Einsatz von unperfekten Bildern des Camcorders, den Sophie einsetzt, gesteigert: Homevideos als Dokumentation und Erinnerung an die gemeinsame Zeit.
In diesen intimen Momenten kommt das Zusammenspiel von Mescal und Corio besonders gut zur Geltung. Corio lässt Sophie gekonnt zwischen kindlicher Naivität und erwachsener Klugheit pendeln, wenn sie mit ihrem Vater über die Trennung der Eltern, die Wohnsituation oder das liebe Geld spricht. Mescal legt seine Vaterfigur vielschichtig an. Er möchte der Tochter, die er lange nicht mehr sehen wird, etwas bieten. Er möchte sich um sie kümmern, ihr unvergessliche Momente schenken, sie unterstützen und bestärken. Manchmal ist er damit allerdings überfordert, da er mit eigenen Dämonen kämpft.

Und Sophie? Ständig beim Papa herumhängen ist für ein 11-jähriges Mädchen sicher nicht der Traumurlaub. Da trifft es sich gut, dass auch andere Familie ihren Urlaub im Club verbringen. Calum versucht, Sophie Kontakte zu anderen Kindern zu ermöglichen. Gemeinsam mit ihr fordert der gutaussehende Jungpapa etwa zwei angeberische Bubis, die etwas älter als seine Tochter sind, zum Billiard-Duell auf – ein Highlight des Films, voller Humor. Sophie kommt so zu einer ganzen Clique an Jungs and Mädels, die sie bei ihren Aktivitäten mitmachen lassen. Ganz passt Sophie allerdings doch nicht zu ihnen, denn wenn die anderen im Wasser herumknutschen oder sich dem Alkohol widmen, fühlt sie sich nicht ganz wohl. Mehr Spaß macht ihr ein Motorradspiel, bei dem sie einen etwa gleichaltrigen Jungen trifft, mit dem sich Wettrennen liefert, wenn genug Kleingeld für das Arcade-Spiel vorhanden ist. Vor allem die Szenen mit der Jugend-Clique sind meist etwas klischeehaft und beliebig. Sie nehmen der Handlung etwas Spannung und Schärfe im Hinblick auf Beziehungen. Etwas dick trägt Wells gegen Ende auch in Sophies Abenteuern mit dem gleichaltrigen Jungen auf.

Das typische Cluburlaubs-Feeling sorgt für Nostalgie, Fremdschämen ob der für so manche peinlichen Shows der Animateur*innen und für jede Menge Unterhaltung. Vielleicht wecken die Bilder von Vorführungen, tollem Essen und Karaoke ja sogar eigene Erinnerungen an ähnliche Urlaube. Mit viel Liebe zum Detail wird auch die Klassentrennung im Club verdeutlicht. Einige andere Gäste, darunter die Jugendlichen, tragen All-Inclusive-Armbänder. Ihre Eltern konnten sich das teure Urlaubspaket leisten; Calum und seine Tochter nicht.

Papa ist einfach peinlich! Das findet Sophie, wenn ihr Vater seine Tanz-Moves auspackt, sich dem Rhythmus hingibt und dabei glücklicher wirkt als in den meisten anderen Momenten. Ob die Tanzkünste von Calum wirklich so schlecht sind, darüber lässt sich wahrscheinlich streiten. „Aftersun“ zeigt aber, dass Sophie und ihr Vater im Urlaub zusammenfinden und die gemeinsame Zeit schätzen. So peinlich ist Papa nämlich gar nicht, auch wenn ihm nicht alles gelingt.

In den besten Momenten vermag „Aftersun“ emotionale Tiefe und Intimität zwischen Vater und Tochter zu erreichen. Getragen von einem fabelhaften Paar in den Hauptrollen, ist Wells‘ Film ein unterhaltsamer, manchmal nachdenklicher Blick auf familiäre Beziehungen, den Weg zum Erwachsenwerden und das Milieu im Cluburlaub. Dank der 1990er Ästhetik und den Camcorder-Bildern ist es auch eine nostalgische Reise – vielleicht zurück zu Sommerurlauben und in die eigene Kindheit.
 
 

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