El norte sobre el vacío

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Forumseintrag zu „El norte sobre el vacío“ von anachronista

anachronista (21.02.2022 20:35) Bewertung
Tiere, die auf Menschen starren
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
Eine Jagdszene in der Steppe. Der schon etwas betagte Don Rey wird von seiner jungen Angestellten Rosa begleitet. Sie reicht ihm die Sonnencreme, unterstützt seine Beutesuche mit dem Fernglas – und reißt im entscheidenden Moment die Flinte an sich, um einen erspähten Hirsch zu erlegen. Später, als der schwächelnde Patriarch die Trophäe für den Abschuss entgegennimmt erfährt niemand in der großen Runde davon, wer eigentlich den Abzug gedrückt hat. Es ist die Einleitung zum dritten abendfüllenden Film der Mexikanischen Regisseurin Alejandra Márquez Abella.

„El norte sobre el vacío“ spielt im Norden Mexikos unweit der Grenze zu Texas. Eine Gegend, in der es weite Landschaften, Ranches, Kühe und eine Menge Gauner gibt. Anlässlich des Farmjubiläums kommt Don Reys ganze Familie zu Besuch und bringt eine Menge alter Konflikte gleich mit. Als dann auch noch zwei zwielichtige Gestalten auftauchen und Schutzgeld erpressen wollen, zeigt sich Don Rey stur und die beiden ziehen mit vielsagenden Blicken wieder ab. Die übrigen Mitglieder der Familie bekommen es mit der Angst zu tun und verlassen nach und nach die Ranch. In einem Showdown werden die Fragen von Freundschaft, Loyalität und Torheit blutig ausgehandelt.

Die Ästhetik der Bilder erinnert bisweilen an die eines Western. Die trockene Landschaft glüht unter der Sonne und die Hitze setzt den Menschen zu. Zwischendurch gibt es Nahaufnahmen von einer Schildkröte, die sich durch die Steppe schleppt, einer Spinne, die ihre Beute einspinnt und einer sich sonnenden Gottesanbeterin. Sie haben keine Probleme mit dem für Menschen recht unwirtlichen Lebensraum. Überhaupt scheinen die Tiere, ob nun lebendig, oder als ausgestopfte Trophäen die Menschen im Film still zu beobachten.

Neben der vordergründigen, durchaus spannenden Story verhandelt der Film auf subtilerer Ebene abstraktere Fragen. Er funktioniert auch als Studie über die komplexen und intersektional verschränkten Ungleichheiten in der mexikanischen Gesellschaft, deren Verständnis jedoch keines intellektuellen Vorwissens bedarf. Das gute Leben der Wohlhabenden Familie steht in krassem Kontrast zu jenem der Bediensteten, die sich zu dritt einen Verschlag teilen müssen. Doch auch unter diesen nimmt Rosa nochmal eine ganz spezielle Rolle ein. Und das wird nicht nur in den betont heftigen Szenen deutlich, wenn sie davon erzählt, wie sie von mehreren Männern vergewaltigt wurde, die in die Ranch eingebrochen sind, sondern auch und vor allem in den Blicken, den Kommentaren und den Subtilen Gesten, die sich im Verhalten der anderen gegenüber Rosa finden.

Aber „El norte sobre el vacío“ prangert nicht nur die bestehenden Verhältnisse an. Er zeigt, dass diese bereits bröckeln und im Wandel begriffen sind. Es dauert wohl nur noch ein bisschen, bis das auch diejenigen bereifen, die sich derzeit noch an die Macht klammern.
 
 

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