Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien

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Forumseintrag zu „Für die Vielen - Die Arbeiterkammer Wien“ von susn

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susn (19.09.2022 21:34) Bewertung
Ein beeindruckender Zenit der Arbeiterrechte
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
Für die Österreicher ist es vielleicht die normalste Institution im Unterbewusstsein ihrer beruflichen Laufbahn. Für andere ist es ein perfektes Beispiel für die Säulen der Arbeiterbewegung, die Wien und seinen Sozialstaat in den letzten 100 Jahren geprägt haben. Der Dokumentarfilm von Constantin Wulff, der in der Sektion Forum der Berlinale seine Weltpremiere hatte, beschäftigt sich mit dem Arbeitsalltag der Arbeiterkammer Wien (AK). Die letzte Bastion im Kampf gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz.

Durch eine beobachtende, nicht eingreifende Herangehensweise an die täglichen Aufgaben eröffnet Wulff einen emotionalen, oft verstörenden Blick auf die Herausforderungen, mit denen die Mitarbeiter konfrontiert sind. Es braucht kein geschultes Auge, um zu erkennen, dass die meisten AK-Klienten Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund sind. Viele kommen mit Übersetzern oder einem Familienmitglied, das ihre Geschäfte erledigt. Und dem Mangel an Wissen, dass selbst ein Erste-Welt-Land wie Österreich zwielichtig gegen die Bevölkerung agieren kann. Die meisten Arbeitnehmer sind in der COVID-19-Sprache sogenannte „unverzichtbare Arbeitskräfte“. Die Baubranche, Gastronomie, Pflegeeinrichtungen, Kassier oder Lieferdienste. Die Probleme tauchen immer wieder in einem Reigen auf. Gehälter, die nicht gezahlt wurden. Wegen einer Verletzung gefeuert werden. Keine formellen Verträge. Erpressung zur Herabstufung des Arbeitsvertrags.

Man muss nicht selbst in prekären Arbeitsverhältnissen leben, um viele dieser Probleme nachvollziehen oder mitfühlen zu können. Die ausbeuterische Kultur des Arbeitssektors hat so viele Ausformungen, dass vieles von dem, was diese Kunden erzählen, bis zu einem gewissen Grad an die Erfahrung des Zuschauers andockt. Wulff lässt den Betrachter mit diesen Menschen mitfühlen. Ihre Verzweiflung, ihre Wut steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Kamera weicht nie aus. Eine Frau weint verzweifelt, weil sie befürchtet, dass sie ihren Job verlieren könnte, wenn sie keinen neuen schlechteren Vertrag unterschreibt. Doch Wulff nutzt diese Momente nie aus. Diese Menschen sind die Helden. Sie sind diejenigen, die den Schritt unternommen haben, um Hilfe zu bitten und sich für ihre gesetzlichen Rechte einzusetzen.

Dieses Problem, dass die Belegschaft zu selten um Hilfe bittet, ist ein wiederkehrendes Thema in der Dokumentation, ein Appell an das Publikum, nicht dieselben Fehler zu machen. Wie eine Pressekonferenz der Wiener AK über einen Skandal um das Rebranding chinesischer Masken als „Made in Austria“ zeigt – „Wenn diese Leute bezahlt worden wären, wären sie nie zu uns gekommen“, fordert die Sprecherin. Ergo wäre der Skandal nie entdeckt worden.

COVID-19 selbst bietet für Wulff die perfekte zufällige Möglichkeit, um seine Argumentation voranzutreiben. Der Dokumentarfilm konzentriert sich Anfang 2020 auf 100 Jahre AK und feiert ein Jahrhundert der Gewährleistung von Arbeitnehmerrechten. Dann müssen plötzlich alle zu Hause bleiben. Eine Neuausrichtung und ein Rebranding ist nur der Anfang. Nun muss die AK beweisen, dass sie in diesen Momenten größter Verzweiflung und Not an der Seite der Arbeiter steht. Mit Massenentlassungen, Kurzarbeit und fehlenden Vollzeiteinkommen steht die Kammer vor noch drängenderen Herausforderungen als in all den Jahrzehnten zuvor.

Seinen sensiblen Umgang mit den Nöten des Lebens hat Wulff in seinen bisherigen Filmen bewiesen. Wie zum Beispiel „Wie die Anderen“ aus dem Jahr 2015, in dem er das Personal einer Kinder- und Jugendpsychiatrie beobachtet. Diese besondere Sprache zu finden nicht zu stigmatisieren und dennoch nicht zurückzuschrecken, sondern die harte Realität zu zeigen, macht seine Dokumentarfilme so eloquent. Gleichzeitig hebt er die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates hervor, ohne jemals einen predigenden Unterton zu nutzen oder diejenigen, die diesen untergraben, unverblümt anzugreifen.

„Für die Vielen“ ist ein emotionaler Einblick in die Realität ausbeuterischer, ungeregelter, neoliberaler Arbeitsnormen. Und die Gefahr, diese Bedingungen für selbstverständlich zu halten. „Sie stellen die falschen Fragen“, erinnert ein Sprecher einen Journalisten bei einer COVID-19-Pressekonferenz zum Thema Lockdowns. „Warum sind westliche Gesellschaften so schlecht gerüstet, damit umzugehen, wenn jemand die Pause-Taste drückt?“ Warum haben es die Bedürftigsten mangels Ersparnisse am nötigsten, den Wirtschaftsmotor immer am Laufen zu halten. „Für die Vielen“ bietet keine Antwort auf diese Frage. Aber es hebt die vielfältigen Symptome hervor.
 
 

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