Monte Verità - Der Rausch der Freiheit

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Forumseintrag zu „Monte Verità - Der Rausch der Freiheit“ von Nina Isele

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Nina Isele (16.04.2022 13:54) Bewertung
Rückkehr zur Natur und zu sich selbst
Exklusiv für Uncut von der Diagonale
Was macht man als Frau Anfang des 20. Jahrhunderts, wenn man sich als Mutter und Ehefrau nicht erfüllt sieht? Wenn einem sogar die Erziehung der Kinder und der Haushalt vom Personal abgenommen wird? Wenn einem die Ärzte davon abraten, sich emotional an der Welt zu beteiligen und die Kinder in den Arm zu nehmen? Und wenn man mit einem Mann verheiratet ist, der seine „Fehler“ hat? Man folgt einem gutaussehenden, jungen Arzt auf dem Weg zurück in ein naturverbundeneres und selbstbestimmtes Leben. So lernt die Protagonistin Hanna Leitner (Maresi Riegner), wie schon viele Sinnsuchende vor ihr, den berühmten Sehnsuchtsort Monte Verità in der südlichen Schweiz kennen.

Stefan Jäger bringt mit „Monte Verità“ eine Welt erneut zum Leben, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Die idyllische Natur, die nur soweit von Gebauten verändert wurde, um die notwendigsten Bedürfnisse, wie ein Bett im Trockenen und ein Schreibtisch zum Briefe Schreiben, zu ermöglichen. Der Rest passiert im Freien. Sogar die Therapien der Gäste mit psychischen Beschwerden finden überall und zu jeder Zeit statt. Immerhin war der Monte Verità in erster Linie eine Naturheilanstalt. Doch es wurde nicht nur versucht, den Menschen selbst zu helfen, sondern es wurde auch an den Konstitutionen der damaligen Gesellschaft herumgedoktert. Hier lebte jede Person eigenständig – egal ob Mann oder Frau, aber in Gemeinschaft.

Frauen wie Hanna Leitner erfuhren zum ersten Mal ein vom Mann unabhängiges Leben zu führen und sich selbst als Person kennenzulernen. So entdeckt Hanna auch ihre Liebe für das Fotografieren wieder, das sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr ausüben durfte. Am Monte Verità war sie frei, zu fotografieren und zu machen, was sie wollte. Für diese Freiheit musste sie jedoch einen hohen Preis zahlen: Solange sie am Berg der Wahrheit verweilte, war sie von ihren geliebten Töchtern getrennt. Ein Schicksal, das viele Frauen der damaligen Zeit geteilt haben, die sich ein selbstbestimmteres Leben ersehnt haben.

Stefan Jäger stellt mit seinem Film aber mehr die Heilkraft der Natur in den Vordergrund. Obwohl das ganze Filmteam die ruhige Idylle über viele Umwege wieder erschaffen mussten, ist ihnen ein wunderbar erfüllender und beruhigender Film gelungen. Man taucht in die fiktive Natur ein, die teilweise für den Film selbst erbaut werden musste. Die Kulisse der Naturheilanstalt wurde ein paar Hügel weiter vom echten Monte Verità aufgebaut, da der Hügel, der sich Berg nennen darf, nicht mehr wiederzuerkennen ist. Stellenweise mussten Szenen trotzdem noch nachsynchronisiert werden, da der private Flugverkehr der reichen Schweizer den Filmdreh gestört hat.

All das lässt sich während des Sichten des Films nicht erahnen. Die Schauspieler vermögen es jegliche Störung des modernen Lebens auszublenden und nur die heilende Wirkung der Gemeinschaft in der Natur darzubieten. Vor allem Hannah Herzsprung muss hier erwähnt werden. In einer recht eigensinnigen und fast schon mystischen Gestalt schwebt sie durch den Film. Nur greifbar in der Beziehung zu den anderen Bewohnern des Monte Verità, vermag sie es das Publikum in ihren Bann zu ziehen.

Ein zusätzlicher Zauber stellt die Rückkehr zu einer analogen Welt dar. Allem voran die analoge Kunst der Fotografie, die zwar in ihrer Technik begrenzt war, aber keineswegs die Kreativität des Fotografierenden eingeschränkt hat. Vielmehr tritt die Fotokamera als Befreier auf, sowohl der Person hinter, als auch der vor der Linse. Und als zweiten großen Zeitvertreib mit künstlerischen Charakter, erhält die Poesie ein kleines Denkmal. Auch sie darf in einer solch freien und liebenden Gemeinschaft nicht fehlen. Immerhin hatte der Monte Verità auch berühmte Gäste wie Herman Hesse, der dort an seinem Werk feilte und immer wieder Kostproben von sich gegeben hat.

Alles in Allem hat man den Eindruck als hätte den Bewohnern des Berges der Wahrheit nichts gefehlt, außer vielleicht hin und wieder ein bisschen Geld, um sich benötigte Dinge aus der Parallelwelt Gesellschaft leisten zu können. Ob das allerdings nur der gekonnten Inszenierung von Stefan Jäger und seinem Team zu verdanken ist, oder ob wir tatsächlich so ein abgekoppeltes Leben führen könnten, ist fraglich. Sicher ist nur eines, es wird immer schwerer für uns werden, uns von unseren Habseligkeiten zu trennen, und ein naturgemäßeres Leben zu führen. Trotzdem spürt man heutzutage eine Rückkehr zur Natur, sei es im Sommer mit Wanderschuhen oder im Winter mit Skiern. Immer mehr Leute treibt es auf die Berge, Wiesen und Seen, weil wir uns der heilenden Kraft der Natur durchaus bewusst sind.
 
 

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