Hygiène sociale

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susn (10.03.2021 21:32) Bewertung
Beziehungsdrama im Freien
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2021
Wer einen Denis-Côté-Film sieht, der darf sich immer auf etwas ungewöhnliches einstellen. Hatte sein unberechenbarer Stil 2019 noch zu dem stummen, observierenden „Wilcox“ geführt, in dem ein Weltenbummler von Ort zu Ort zieht, so ist sein „Hygiène Sociale“ ein sehr statisches, dialoglastiges Drama geworden. Gefilmt während der Coronakrise in weiten Feldern und mit dem nötigen Abstand, ist der Film jedoch kein Produkt seiner Umstände. Côté hatte von Anfang an geplant, diese ungewöhnliche Inszenierung so umzusetzen. Und überrascht sein Publikum somit aufs Neue.

In einem filmisch diegetisch nicht näher definierten offenen Raum entsteht ein Kammerspiel zwischen dem Dandy Antonin (Maxim Gaudette), der sich in Konflikt mit seiner Schwester Solveig (Larissa Corriveau), seiner Frau Eglantine (Evelyne Rompré), seiner Geliebten Cassiopée (Eve Duranceau), seinem diebischen Opfer Aurore (Eleonore Loiselle) sowie der Finanzbeamtin Rose (Kathleen Fortin) findet. Als Herumtreiber und Kleinkrimineller hat er die Lust daran verloren am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Er erheitert sich an alltäglichen Diebstahlen mit seinem nie gezeigten Freund Michel, schläft in dessen Volkswagen, und fühlt sich generell stets gereizt und unkooperativ. Seine Schwester und seine Geliebte wollen, dass er wieder zu arbeiten beginnt, seine Frau beschwert sich ob der wenigen Aufmerksamkeit. Die Finanzberaterin versucht er zu umschmeicheln um seine Steuern nicht nachzahlen zu müssen, Aurore stellt sich ihm, da er ihre Sachen gestohlen hat.

„Hygiène Sociale“ funktioniert als Mikrokosmus des Dialogs, in dem die Schauspieler in weiten Establishingshots fast schon in der Landschaft verschwinden. Die Statik, das rein durch Gebärden und Intonation ausgedrückte Schauspiel, da die Kamera nicht immer nah genug draufhält, geben den Takt und schwingen durch die Substanz des Films. Mit fortschreitender Handlung rückt er immer näher an seine Figuren, so wie sie kontinuierlich ihr inneres Seelenleben entblößen. Unterbrochen werden die Dialoge durch Zwischenschnitte von Waldabschnitten oder die Bewegung darinnen. Ebenso führt der Film die zunächst noch namenlose Aurore ein, die sich suchend durch die bewaldeten Hänge kämpft und zu „Kiss me until my lips fall off“ von Lebanon Hanover völlig in sich gegangen vor sich hin tanzt.

Côté ist ein Meister darin, in diesem erneut kurzgehaltenen Film möglichst viel aus seinen stets klein gehaltenen Setups herauszuholen. Die Frage, ob der seinen Erwartungen müde Antonin sympathisch ist oder nicht überlässt er den Zuschauer. Ebenso, ob sein finales Schicksal gerecht ist. Was auf jeden Fall scheint, ist Energie der Schauspieltruppe, die aus dem mikroskopischen Raum, der ihnen zur Verfügung steht, Spannung und Dramatik herauskitzeln kann.
 
 

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