She Dies Tomorrow

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Forumseintrag zu „She Dies Tomorrow“ von juliap

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juliap (29.09.2020 12:05) Bewertung
Morbides Gedankenexperiment
Exklusiv für Uncut vom Slash Filmfestival
Stell dir vor, du wachst eines normalen Tages in der festen Überzeugung auf, du müsstest morgen sterben. Amy Seimetz nimmt sich für ihr neueste Regiewerk genau diesem düsteren Gedanken an und erschafft mit „She dies Tomorrow“ ein Gedankenspiel mit einem Gefühl, das wie ein Lauffeuer um sich zu greifen scheint.

Der Film folgt der Protagonistin Amy, die zu Beginn des Films ihr neues Haus bezieht. Ihr Verhalten schlägt rasch ins Merkwürdige um, sie beginnt exzessiv zu trinken und erkundigt sich im Internet über Urnen. Nachdem sie ihre Freundin Jane übers Telefon bittet vorbeizuschauen, weil es ihr nicht gut gehe, willigt diese widerwillig ein Amy zu besuchen. Jane findet Amy völlig aufgelöst im Garten, immer wieder wiederholt sie, dass sie morgen sterben werde. Ihr letzter Wunsch sei es, zu einer Lederjacke verarbeitet zu werden, um auch nach dem Tod noch einen Nutzen darzustellen. Amys Zustand wird von Jane auf die von ihr konsumierten Alkoholmengen zurückgeführt. Als ehemalige Alkoholikerin scheint Amy wohl eine Art Rückfall gehabt zu haben. Kurze Zeit später fährt Jane zurück in ihr Haus, doch schlagartig befällt auch sie das Gefühl, dass ihre Tage morgen gezählt sein werden. Verstört begibt sie sich im Nachtgewand zur Geburtstagsparty ihrer Schwägerin Susan, der sie die Feierlichkeiten mit ihren morbiden Gedanken gehörig verdirbt. Doch schon bald nimmt auch in den Köpfen von Susan und ihrem Mann Jason der Gedanke Einzug, dass dies ihr letzter Tag auf Erden sein wird. Das Gefühl greift unhaltbar um sich und jeder der Betroffenen versucht auf eigene Art und Weise mit der Gewissheit des eigenen Ablebens fertigzuwerden.

Das Reflektieren über die eigene Vergänglichkeit bzw. Sterblichkeit ist eine dem Menschen inhärente Eigenschaft – ein Grund weshalb man sich zumindest teilweise problemlos in die wahnhaften Gedanken der Hauptfigur hineinversetzen kann. Die Angst sterben zu müssen ist etwas Alltägliches und früher oder später verliert gewiss jeder seine Gedanken daran. Doch in Amy Seimetz Drama wird diese Überlegung ganz und gar auf die Spitze getrieben. Als eine Art hochansteckender Virus porträtiert, spiegelt das filmische Experiment gerade zu solch unsicheren Zeiten, in welchen wir uns gerade befinden, ein kollektives Gefühl der Ohnmacht dar, dem wir vollends ausgeliefert sind. Obwohl der Film lange vor der COVID-19-Pandemie gedreht und vollendet wurde, scheint er den Zeitgeist unseres derzeitigen Alltags perfekt einzufangen. Ebenso könnte man das Werk als Versuch den Ablauf einer Panikattacke zu skizzieren, interpretieren, sind die von der rätselhaften „Krankheit“ Befallenen doch völlig eingenommen von ihren Angstgefühlen.

Um sich der kaleidoskopartigen, unkonventionellen Erzählung hinzugeben, muss man sich allerdings von Beginn an auf das Konzept des Films einlassen, das weniger versucht eine kohärente Geschichte zu vermitteln, als einen bestimmten Gemütszustand, der irgendwo zwischen pessimistisch und nihilistisch zu verorten ist.

Amy Seimetz neuester Film, nach ihren von der Kritik gefeierten Langspielfilmdebüt „Sun Don’t Shine“, beweist erneut das Regietalent der vorwiegend als Schauspielerin ( You’re Next, Alien: Covenant, Pet Semetary) tätigen US-Amerikanerin. Mit flimmernden Neonlichtern und modernisierter, repetitiver klassischer Musik wird das Gefühl des immanenten Todes gekonnt in Szene gesetzt und untermalen dabei gleichzeitig die (alb-) traumhafte Aura, die den Film umgibt.

Hauptdarstellerin Kate Lyn Sheil, die bereits in einigen Projekten mit Seimetz kollaboriert hat, lässt auch in „She Dies Tomorrow“ ihre Vorliebe für das Horrorgenre aufblitzen und stellt mit Behutsamkeit und Leidenschaft den allmählichen Abwärtssog der Protagonistin dar.

„She Dies Tomorrow“ ist kein Horrorfilm im klassischen Sinne, sondern vielmehr ein unbequem aktuelles und dennoch gelungenes Unterfangen, zentrale menschliche Emotionen, die jeden von uns von Zeit zu Zeit heimsuchen, in ihrem Innersten zu illustrieren.
 
 

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