Die Grazer Gruppe

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Forumseintrag zu „Die Grazer Gruppe“ von deutobald

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deutobald (25.03.2020 17:05) Bewertung
Gemeinsam individualistisch in Graz
Exklusiv für Uncut von der Diagonale
Früher, zu Kaisers Zeiten, da war die Welt noch einfach und überschaubar. Da gab es Wien (Kaiser plus Hofstaat) und den Rest (die „G'scherten“). In ersterem hat man gottbegnadet regiert, in letzterem demütig Befehle empfangen und Spezereien erzeugt um in der Perle Wien die Gaumen zu kitzeln. Und damit halt keine Revolution ausbricht wurden auch in den Städten und Dörfern der Provinzler ein paar Theater und Schulen errichtet.

Aber das ist lange her. Eine föderale Verfassung müht sich seit Jahrzehnten den Österreichern Gleichberechtigtheit zu lehren. Nicht zuletzt Festivals wie die heuer leider der „Coronakrise“ zum Opfer gefallenen Diagonale untermauern das.

Dass dieses Filmfestival aber nur ein Teil der brodelnden Kulturszene ist, das wissen Steirer auf jeden Fall. Arglose Grazbesucher wissen es spätestens bei einem Spaziergang durch den Stadtpark. Das dortige Forum Stadtpark ist einer der Hotspots der österreichischen Kulturlebens aller Kunstformen, so auch der literatischen Vereinigung der Grazer Gruppe, der Markus Mörth in seiner Dokumentation nachspürt. Höchste Zeit, denn in den Herzen und Hirnen der Österreicher ist es mit der Gleichberechtigung der Regionen noch nicht ganz so weit her: „Wiener Gruppe“ kennt jeder, aber die „Grazer“? Dabei sind etliche der Protagonistinnen allgemeiner Begriff: Barbara Frischmuth, Wolfgang Bauer, Gerhard Roth, Peter Handke... Aber schon die Schlüsselfigur Alfred Kolleritsch ist nur mehr einschlägig Interessierten ein Begriff. Dabei ist es seine Gründung der Literaturzeitschrift „manuskripte“ die vieles erst möglich machte und die bis heute fortlebt.

Dass man die „Grazer Gruppe“ auch zeitgenössisch nicht als homogene Gruppe wahrnahm lag daran, dass sie kein einheitliches ästhetisches Programm vertrat, sondern eher eine lose Gemeinschaft von Individualisten war. Wohl oder übel ist dies tatsächlich auf die – von Wien aus gesehene – Randlage zurückzuführen: die Stadt bot in der kulturellen Wüste Nachkriegsösterreichs zwar ein willkommenes Refugium für Kreative und Nonkonformisten, war aber dann doch zu klein um unterschiedlichsten Strömungen jeweils eigene Szenelokale zu bieten. So trafen im Forum Stadtpark die verschiedensten Künstlerpersönlichkeiten aufeinander um sich gemeinsam den Rücken zu stärken.

Der Film trägt dem Rechnung indem er – verwoben in die geschichtliche Erzählung – zumindest einigen der literarischen Leitfiguren kurze Portraits widmet. Neben den Obengenannten, die teilweise auch ausführlich in Interviews zu Wort kommen, gibt es Gelegenheit bekannte (Wolfgang Bauer) und weniger bekannte (Gunther Falk) Autoren posthum aus Archivmaterial wiederzuentdecken.

„Die Grazer Gruppe“ will aber mehr sein als Schulfernsehen für Deutschmaturanten, sondern versucht ein Portrait einer immer noch lebendigen Szene. Die Erzählung setzt sich fort bis in die jüngste Vergangenheit und auch die Gegenwart fließt hinein: Clemens Setz, der in Graz lebende große Solitär der österreichischen Gegenwartsliteratur sitzt in manchen Einstellungen den Interviewten als stiller Befrager gegenüber.

Naheliegend ist natürlich, dass dem jüngsten Literaturnobelpreisträger Peter Handke, der in seiner Anfangszeit als umtriebiger Einzelgänger in Graz sehr aktiv war, großer Raum gewidmet ist. Aber als Zuseher bedauert man fast diese Überpräsenz, wäre dann doch noch mehr Platz für andere, weniger prominente Autoren gewesen. Auch Clemens Setz etwa hätte man gerne reden gehört. Nichtsdestotrotz ein wichtiges Dokument literarischer Geschichtsschreibung und potentielle Inspiration für literarische Revoluzzer von morgen, die vor allem durch das sensationelle Archivmaterial im Gedächtnis bleibt.
 
 

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