Oeconomia

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Forumseintrag zu „Oeconomia“ von anachronista

anachronista (27.02.2020 08:33) Bewertung
Fragen, über die niemand reden will
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2020
Wie wird eigentlich neues Geld produziert? Mit dieser auf den ersten Blick trivial anmutenden Frage beginnt Carmen Losmanns neuer Dokumentarfilm „Oeconomia“, der im Forum der 70. Berlinale Weltpremiere feierte. Mit ebendieser Frage konfrontiert Loosmann zahlreiche Akteure aus dem Banken- und Finanzwesen. Schnell wird klar, dass viele sich entweder nicht für diesen fundamentale Grundsatz zu interessieren scheinen oder die Antwort schlichtweg nicht wissen. Im weiteren Verlauf des Films wird klar, woran das liegt. Die Wirtschaftswissenschaft, die an den Universitäten gelehrt wird, interessiert sich nicht wirklich für diese Frage. Von einer wachsenden Geldmenge wird — solange auch die Wirtschaft wächst — einfach ausgegangen. „Oeconomia“ geht der Beziehung zwischen Wachstum, Neuverschuldung und der Anhäufung von privaten Vermögen nach. Die Beziehung wird anhand einer Grafik erklärt, deren Entstehung die Zuschauer*innen auf einem Computerbildschirm nachverfolgen können. Diese grafische Benutzeroberfläche taucht während des Films immer wieder auf, um Zusammenhänge zu verdeutlichen. Es werden Schlagwörter, Diagramme und Zahlen eingeblendet und anschließend wird weiter reingezoomt, um den nächsten Zusammenhang darzustellen. Die Technik ist dem Genre der Desktop Documentary entlehnt, bei welcher ganze Filme durch das Geschehen auf einem Computerbildschirm erzählt werden.

Gleich zu beginn des Films wird der Hinweis eingeblendet, dass viele der Gesprächspartner abgesagt hätten oder schließlich doch nicht im Film zu sehen oder hören sein wollten. Aus diesem Grund sind viele Interviews und Telefonate mit Schauspielern nachgestellt und nachgesprochen worden.
Einige Banken boten an, Kundengespräche oder Meetings zu simulieren, da die echten Situationen aus rechtlichen Gründen nicht gefilmt werden dürften. Dazu passend haben die Bilder der Foyers und Besprechungsräume in den Hochhäusern der Banken und Investmentfirmen stets etwas künstlich kulissenhaftes.

Verglaste Büros in den oberen Stockwerken dieser Türme sind auch der Schauplatz für jene Interviews die zustande gekommen sind. Dort, wo diejenigen sitzen, die für die Geldvermehrung zuständig sind und an ihr verdienen. Die Kamera ist sehr nah an den Interviewpartnern und fordert sie auf, direkt in die Linse zu blicken. Auch in dieser Fixierung versuchen die Gesprächspartner häufig vorbeizureden, sich den direkten Nachfragen zu entziehen. Trotz der fast schon aufdringlichen Interviewsituation, wird mit den Gesprächspartnern nie respektlos umgegangen, nie werden sie bösartig vorgeführt.
Vielmehr wird deutlich, dass das System, innerhalb dessen sie agieren marode ist. Denn, so wird zunehmend deutlich, die Gewinne und das Wachstum, nach dem jedes Unternehmen und jede Bank streben, sind nur möglich, durch immer höhere Verschuldung seitens des Staates oder der Haushalte. Ein Banker, der lieber anonym bleiben möchte bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „So wird der Schuldner zum zentralen Akteur im Kapitalismus“. Daran, wohin diese pausenlos wachsenden Schuldenberge führen dürften, lässt er keinen Zweifel: „Das System funktioniert eben so lange es funktioniert.“ Man möchte hinzufügen: und wenn es nicht mehr funktioniert, dann kollabiert es.

Auch wenn der Film einige wichtige Fragen ausblendet, wie etwa die Rolle der Politik oder die ungleiche Verteilung von Vermögen, ist Carmen Losmann, die schon mit ihrem ersten Dokumentarfilm „Play Hard, Work Hard“ zum Thema Selbstoptimierung auf sich aufmerksam gemacht hat, ein gleichermaßen unterhaltsamer wie auch lehrreicher Film über ein vermeintlich sprödes Thema gelungen.
 
 

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