Shirley

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Forumseintrag zu „Shirley“ von Stadtneurotikerin

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Stadtneurotikerin (26.02.2020 16:18) Bewertung
Die Hausfrau im Delirium
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2020
Die amerikanische Regisseurin Josephine Decker ist gerade dabei, einer der ganz großen Namen des zeitgenössischen Independent-Films zu werden. Ihr letzter Film „Madeline’s Madeline“ war 2018 einer der Kritikerlieblinge, die seitdem mit Neugier und hohen Erwartungen Deckers nächsten Film entgegensehen. Mit „Shirley“ ist dieser nun da und nach der Premiere auf dem Sundance Filmfestival auch in Berlin gelandet. Die hohen Erwartungen wurde nicht enttäuscht, sondern übertroffen.

Decker tobt sich gerne in der Grauzone zwischen Fakt und Fantasie aus. Dementsprechend ist „Shirley“ das perfekte Projekt für die Regisseurin. Es ist biographisch, indem es uns eine Episode aus dem Leben der populären amerikanischen Grusel-Autorin Shirley Jackson erzählt. Der Film orientiert sich dabei aber nicht so sehr an Fakten, sondern ist so entgrenzt wie die Fantasie der Autorin selbst.

Im Zentrum steht ein junges Ehepaar in den 1950er Jahren, Rose und Fred. Fred hat gerade eine Assistenz-Stelle bei einem Professor, Stanley Hyman, angenommen, während Rose Literatur studiert. Der Professor, Shirleys Ehemann, lädt das junge Ehepaar ein, vorübergehend bei ihnen zu wohnen. Was zunächst wie ein großzügiges Angebot klingt, stellt sich vor allem für Rose bald als Falle heraus, denn Stanley möchte, dass sie sich während des Aufenthaltes um den Haushalt kümmert und seine Frau unterhält. Shirley hat gerade eine persönliche und eine Schaffenskrise. Aufgrund ihrer Depression hat sie seit zwei Monaten das Haus nicht mehr verlassen, doch die neue Frau im Haus scheint ihre Fantasie wieder anzuregen. Als sich herausstellt, dass Rose schwanger ist, bricht sie ihr Studium ab und wird zur Ehefrau und Hausfrau degradiert. Die einzige Abwechslung, die ihr bleibt, ist die blühende Fantasie der Autorin, die ihr ermöglicht ein Leben außerhalb sich selbst zu führen.

Das spannende, clevere und bissige Drehbuch von Sarah Gubbins erzählt nicht nur von der Suche dieser zwei Frauen nach ihren Identitäten, sondern untersucht das strukturelle Verschwinden weiblicher Persönlichkeiten in ehelichen Haushalten in den 1950ern. Dazu werden zwei Ehepaare gegenübergestellt. Shirley und Stanley sind kein traditionelles Ehepaar. Stanley kennt das Talent seiner Frau und lebt genauso davon, wie von seinem eigenen Professoren-Gehalt. Gleichberechtigt sind sie aufgrund Shirleys mentaler Instabilität dennoch nicht. Plötzlich ein traditionelles Ehefrauchen im Haus zu haben, gefällt Stanley sichtlich. Gekochtes Essen, saubere Räume und obendrein noch aus der Hand einer wunderschönen, jungen Frau. Daneben haben wir das junge Ehepaar, das sich anfangs über ihre gemeinsame Leidenschaft, die Literatur, definiert. Als Rose jedoch schwanger wird, ist klar. Ihr Mann wird seine Professur verfolgen, während sie zuhause bleibt.

Im Film werden diese Ehefrauen „Lost girls“ genannt. Shirley als Autorin versucht ein solches verlorenes Mädchen zu finden und ihre Geschichte für sie zu erzählen. Während sie versucht, die Geschichte ihrer Romanfigur zu erkunden, schreibt sie jedoch eine dunkle Prophezeiung über Rose. Die Figuren und ihre Schicksale verschmelzen immer mehr ineinander. Fieberhaft erzählt Decker vom Wahnsinn des (Haus-)Frauseins und von der Erlösung durch die Emanzipation. Ein Film, der in den 1950ern spielt, aber dennoch Themen aufgreift und auf eine Art aufarbeitet, die den Nerv der heutigen Zeit treffen.

Sehr positiv sind auch die Performances von Elisabeth Moss als Shirley und Michael Stuhlbarg als Stanley hervorzuheben. Es ist ein schauspielerisches Kräftemessen auf dem Schlachtfeld einer unglücklichen Ehe. Beide sind so dermaßen in Höchstform und holen das Beste aus dem jeweils anderen heraus. Eine Hassliebe war noch nie so stimulierend wie in „Shirley“.

Alles in allem ist „Shirely“ ein nahezu perfekter Film, bei dem es einfach an nichts fehlt. Josephine Decker setzt das ausgezeichnete Drehbuch wirkungsvoll um und macht es zu einer ästhetischen und intellektuellen Erfahrung, die alle Sinne anspricht. Elisabeth Moss und Michael Stuhlbarg liefern zwei der tollsten Performances, des noch jungen neuen Filmjahres.
 
 

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