Le Mans 66: Gegen jede Chance

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Forumseintrag zu „Le Mans 66: Gegen jede Chance“ von Andretoteles

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Andretoteles (01.02.2022 13:20) Bewertung
Ford v Ferrari oder Individuum v Unternehmen
Während des ersten Filmdrittels finden wir uns in einem dunklen, italienischen Hinterzimmer wieder. Der anzugtragende Mann höheren Alters beäugt sorgfältig ein Dokument, berät sich per konspirativem Augenkontakt mit seinen Handlangern und schüttelt dann Ablehnung ausdrückend den Kopf. Man könnte meinen, wir folgen den Ausführungen eines Mafiafilms, bevor wir uns wenig später in einem nervenaufreibenden Zweikampf zwischen zwei Rennwagen der 1960er Jahre aufhalten. Klischeebehaftete Szenen sowie technisch brillant gefilmte Motorsportrennen wechseln sich im Film Ford v Ferrari (2019) von James Mangold ab. Nicht zum ersten Mal probiert Mangold sich im Biopic-Genre (Walk The Line) und wird im Übrigen das fünfte Werk der Indiana-Jones-Serie (geplant für Juli 2022) inszenieren.

Die Rahmengeschichte ist schnell erzählt: die Marke Ford möchte in den 1960er Jahren ihre Popularität erhöhen und in den professionellen, von Ferrari dominierten Rennsport einsteigen. Nachdem Enzo Ferrari ein Angebot zur Übernahme in der Mafiaszene ablehnt, entscheidet sich Henry Ford II (Tracy Letts), Carroll Shelby als Projektleiter für die neue Rennsportsparte zu engagieren. Gewohnt routiniert gespielt von Matt Damon entwickelt Shelby gemeinsam mit dem hitzköpfigen Ken Miles (Christian Bale) einen neuen Boliden und setzt Miles später als Fahrer für die entscheidenden Rennen im Kampf gegen Ferrari ein.

Die linear-konservativ, fast schon mutlos erzählte Handlung hat in den technizistisch inszenierten Rennsequenzen sowie im Charisma und in der Chemie der beiden Protagonisten ihre besten Elemente. Wir spüren, wie Damon und Bale in ihren Rollen als ambitionierte Amerikaner aufgehen, so wie wir die Geschwindigkeit und die Enge der Rennwagen spüren. Es bereitet Freude, die beiden miteinander agieren und ringen zu sehen (im wahrsten Sinne des Wortes). Die häufigen und uninspirierten Michael-Bay-Kameraeinstellungen von Autos im Sonnenuntergang unterstreichen das Pathos der amerikanischen Kraft im Hinblick auf die Motorindustrie und die Individualität. Insbesondere Bale, der Ken Miles hervorragend darstellt, lebt den American Dream und konstituiert seine Lebensenergie im Rennsport – manchmal zum Leidwesen seiner Familie, die zeitweise vor dem Ruin steht. Mitunter fehlt es dem vierfach Oscar-nominierten Film an der Ausgestaltung mehrerer weiblicher Rollen. Lediglich die Ehefrau von Miles (solide gespielt von Caitriona Balfe) darf sich an Szenen versuchen. Dabei kommt der Film kaum ohne Stereotype aus: erst die besorgte Ehefrau, dann die fürsorgliche Mutter, die voller Stolz Ehemann und Sohn beim Spielen mit Spielzeugautos zusieht. Sie hält ihrem Ehemann den Rücken für seinen Traum frei, während sie selbst keinerlei Charakter oder Lebensinhalt aufweist. Selbstredend hat sich die Rahmenhandlung als historische Gegebenheit patriarchal zugetragen und als klassisches Biopic vermeidet der Film kontrafaktische Zustände. Allerdings stellt sich die Frage, wie relevant diese einzige weibliche Figur ist, wenn nicht das übliche Gesellschaftsbild der Hausfrau und Mutter transportiert werden soll.

Neben dem traditionellen Frauenbild fällt der Film durch einen rassistischen Nationalgedanken auf. Nicht nur, dass die vorkommenden Italiener anfänglich als mafiöse Ganoven porträtiert werden, später werden typische Klischees bedient: italienische Personen sind hektisch, laut, unordentlich, hitzköpfig und reden stets durcheinander. Der Film verwehrt sich hier einer differenzierten Darstellung der Personen und stellt vermeintliche national-kulturelle Unterschiede normativ dar. Der Hitzkopf Miles indes stößt konsequent aneinander mit den Angestellten der Ford Company. Seine aufbrausende Persönlichkeit ist nicht erwünscht im Sinne der hygienisch sauberen Corporate Identity. Das unternehmerische Kollektiv muss wichtiger sein als das Individuum. Hier gelangt der Film an seine systemische Grenze. Im Spannungsfeld zwischen der Individualität und den wirtschaftlichen Fesseln des Neoliberalismus entscheidet er sich für das System und damit gegen den Charakter des Individuums und damit gegen den vom Neoliberalismus gepredigten Satz „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Hier bleibt die Aussage des Films blass und wieder - mutlos.

Trotz der offensichtlichen Schwächen treffen solche „mobilitätsgetriebenen“ Filme (z.B. aus dem letzten Jahrzehnt: Dunkirk, Gravity, Mad Max: Fury Road) zu Recht den Geschmack der Academy für Schnitt und Tonschnitt, weshalb genau diese beiden Preise aus den vier Nominierungen bei der letztjährigen Verleihung 2020 heraussprangen und abgesehen von den ideologischen Problemen (Frauenbild und Rassismus) sind dies genau die Vorzüge des Films. Technisch einwandfrei und spannend geschnitten beherrschen die Rennsequenzen die Aufmerksamkeit der Zuschauer:innen, die dadurch einem hohen Unterhaltungswert erliegen. Die Nominierung als bester Film bleibt dennoch ein Rätsel, wenngleich sich die Nominierung womöglich dadurch erklären lässt, dass das amerikanische Nationalbewusstsein ein solches Narrativ des sportlich-nationalen Sieges in Zeiten von außenpolitischer Distanzierung unter Donald Trump dringend benötigt hat. Technisch bleibt Ford v Ferrari über alle Zweifel erhaben und kann bei aller Ideologiekritik durchaus an einem Sonntagabend als einfache Unterhaltung dienen. Sollte es etwas mehr sein, müsste man wohl die Geschichte umschreiben.
 
 

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