Bora - Geschichten eines Windes

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Forumseintrag zu „Bora - Geschichten eines Windes“ von Reinderl

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Reinderl (31.10.2019 22:20) Bewertung
Wo der Wind haust
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Ein Raubvogel schwebt, wird getragen, weit oben im graublauen Himmel hält ihn der Wind. Ein anderer kreuzt seinen Weg – kurz sind sie zu zweit im Bild – biegt dann wieder ab. Eine raue Landschaft, in der ein weißhaariger Beobachter über steingesprenkelte Hänge hinaufmarschiert, um mit seiner Kamera diese Vögel unter und vor sich einzufangen, die über dem Meer kreisen. Sie ziehen ihre Bahnen über „dem schönsten Land, diesen Bergen und diesem Meer“. So drückt es der Vogelbeobachter, der in den Bergen lebt und diese Landschaft am liebsten dann von oben betrachtet, wenn die Bora weht und die Fischerboote von der Meeresoberfläche vertreibt, aus.
Dass die Raubvögel keine Adler sind, wie die Bewohner von Senj, der Stadt, in der und um die ein Großteil der Dokumentation gedreht wurde, behaupten, sondern Weißkopfgeier, wird der Regisseur, der den Film auch produziert und Kamera gemacht hat, beim Publikumsgespräch verraten. Aber so wichtig sind diese Unterschiede auch wieder nicht. Es geht ja genau darum, die Mythen und Geschichten einzufangen, die mit der Bora, dem Fallwind, der die adriatische Küste oft stark wie ein Orkan hinunterbläst, verwoben sind, nicht, sie aufzulösen.

Denn ein jeder erzählt dazu seine eigene Geschichte, der Vogelbeobachter auf dem Berg, der die Windgeschwindigkeiten, die er vor seiner Bergbehausung misst, noch übers Telefon weitergibt, genau so wie der junge Fotograf, der mit seinem Storm Chasing Team hinausfährt, wenn die Bora zu blasen anfängt, um sich dagegenzustemmen und die höchsten Windgeschwindigkeiten einzufangen. Ihn haben die Bora und die Kamera davor gerettet, sich in der Arbeits- und Sinnlosigkeit zu verlieren, die den Menschen dort, vor allem außerhalb der Urlaubssaison, zu schaffen machen.

Ob der Chor der älteren Stadtbewohner über die Bora singt oder der Wind übers Land und Meer faucht und die Wellen tosen lässt, Bernhard Pötscher lässt Menschen, Bilder und Geräusche die Eigenheiten dieses Windes beschreiben. Stark, stur, gefährlich kann er sein, streichelnd, verführerisch. So wie die Menschen in der Gegend. Wie die Landschaft. Auch die Musik trägt diesen Stimmungsschwankungen Rechnung. Otto Lechner, der blinde Ziehharmonikaspieler, der sich das Spielen selbst beigebracht hat, begleitet den Film mit seinem Soundtrack „Musik für einen Wind“. Immer wieder die Menschen, wie sie im Wind stehen, ein Selfie machen, mit Haaren, die am Kopf kleben, sich nicht aus der Stirn streichen lassen, weil der Wind so mächtig ist.

Bernhard Pötschers Film ist eine Liebeserklärung an dieses Land, in dem der Wind bläst und die Charakterköpfe, die in ihm wohnen. Gesichter so zerklüftet wie die Felsen, Schafe, die sich vor dem Wind zurückziehen, Berge und Meer, über denen die Wolken zart liegen oder sich zusammenbrauen. Und dann Schnee und Eis, das tödlich sein kann, wenn die Bora kommt. Ein Temperaturabfall, der ein Elternpaar töten kann und nur die Kinder übriglässt, weil sie sich gegenseitig an den Haaren ziehen, um nicht einzuschlafen. Denn die Bora ist nicht nur ein Wind. Sie formt die Gegend, in der sie vorkommt, formt auch die Menschen in ihr.

Wenn man den Windmesser sieht, wie er seinem Enkel das Hemd in die Hose stecken will, und der ihn zurechtweist, während er etwas in einen Eimer schaufelt – „Nicht Opa, ich arbeite.“ – fühlt der Zuseher die Umgebung, in der dieser Wind blasen kann. Wenn der Schneepflug stecken bleibt und Wind und Schnee von außen gegen die Scheiben drücken, überwältigt einen die Wucht. Schönheit und Kargheit sind nebeneinander dokumentiert. Macht und Zerstörung, Ruhe und Abwarten. Gegensätze, die dieses Land ausmachen: der alte Mann, der auf einem Stein sitzt und Gedichte über die Bora vorliest, wie sie den Liebsten von draußen verführt, steht neben Bildern von Partygästen am Strand, die so lange tanzen und Alkohol trinken, dass ihnen der Wind, der ihnen die Haare wegbläst, gar nichts mehr sagen kann, vielleicht auch gar nichts mehr sagen muss. Das Bild eines Menschen auf dem Teil eines Windmühlenflügels, der so groß ist vorm Blau des Himmels, dass der Zuseher eine ganze Zeit braucht, um ihn überhaupt als solchen zu identifizieren.

Der Film fängt ein Gefühl ein, das Gefühl, wie ein Mensch vor der Gewalt und Ruhe dieser Natur und der Phänomene, die sie hervorbringt, fassungslos und voll Erstaunen stumm wird. Er zeigt aber genauso, dass die Gewalt der Natur entzaubert und zu etwas Gewöhnlichen werden kann. Er dokumentiert nämlich auch, was die Bora vielleicht in ein paar Jahren nicht mehr sein wird, was verloren gehen kann.

Pötscher, der seine Arbeit beim Film als Beleuchter und Tonmeister begann und als Kameramann mit Regisseuren wie Haneke, Albert oder Kreihsl gearbeitet hat, bevor er selbst bei Filmen Regie führte, hat es geschafft, die Zuseher zu fesseln und mitzunehmen. Seine Erfahrung in allen Bereichen der Filmarbeit sieht und hört man in diesem Gesamtkunstwerk, wo alles zusammenpasst und ineinanderfließt, Ton, Bild und Narrativ. Auch Leute, die im Publikum sitzen, sind plötzlich vor Ort, erzählen ihre Bora-Geschichten, z.B. von der Touristenfamilie, die im Boot erstickt sei, weil die Bora das Salz aus dem Meer herausdrückt, so dass es unten, wo die Boote fahren, kein Sauerstoff mehr übrigbleibt.

So viele Geschichten es gibt, so viele fängt der Film auch ein. Und das ist der einzige Kritikpunkt, der bleibt. Insgesamt waren es zwischenzeitlich vielleicht ein paar Geschichten oder Einstellungen zu viel, die sich abgewechselt haben.
 
 

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