Wer singt denn da?

Bewertung durch deutobald  85% 
Durchschnittliche Bewertung 85%
Anzahl der Bewertungen 1

Forumseintrag zu „Wer singt denn da?“ von deutobald

deutobald_3cfc7ac6b3.jpg
deutobald (18.11.2018 12:51) Bewertung
Museales aus Ex-YU in Breitensee
Exklusiv für Uncut
Ja sapperlot, was war das für ein Redereigen gestern! Fast mochte man meinen bei der Verleihung des Staatspreises für Gentrifidingsbumsinnovation oder sowas zu sein, aber nein, es war nur der Premierenabend einer neuen Reihe "KultKino" mit der die Betreiberinnen des "ältesten noch bespielten Kinos der Welt" (diese Wortkombination kam in jedem einzelen Redensatz vor) ihrem betagten Gehäuse Leben einzuimpfen gedenken. Das Motto der Reihe: Prominente zeigen ihren Lieblingsfilm her.
Mir persönlich steigen ja immer die Grausbirn auf, wenn ich das Wort "Kult" höre. Weil meistens will man sich damit Zweitklassiges schönlabeln, das man irgendwann in ferner Jugend beim dritten Bier total schrullig gefunden hat. Aber der mir bisher unbekannte Serbische Film von 1980 klang sehr vielversprechend und auch gegen den Lieblingsfilmherzeiger des Abends - Vodoo Jürgens - hab ich nicht grundsätzlich was. Die Musik seiner total erfolglosen Vorgängerband lag mir zwar mehr, aber ich gönns ihm dass er auf den Wellen der derzeit schicken Dialektmusik auch endlich a bissl einen Reibach macht und die Kinder was zum Beissen haben.
So schlug ich mir denn eine Schneise durch die vorm fuziwuzi Kino schnatternde Wohlstandskindermeute in der man sich gegenseitig übertrumpfte bei der möglichst authehtischen Aussprache der jüngst nach Büroschluß gelernten Dialektvokabel.

Ja und der Film wars eindeutig wert. Die Geschichte ist schnell erzählt: bunt zammgewürfeltes Personal fährt mit verspätetem Überlandbus in die Hauptstadt. Die Fahrt ufert natürlich aus, mit liebenswürdigen Ausstattungdetails (der Bus qualt zweifach: hinten vom Motor, oben vom Kohleofen, der das Gefährt mit offenen Fenstern beheizen will) reiht Chaotisches sich an kleine Gaunerein unter Sitznachbarn, Flegeleien und Vorurteile, die niemandem was tun. Unterm Strich haben sie sich ja doch alle lieb, irgendwie, diese schrulligen Balkaneser. Bis dann am Ende das Erwachen kommt. Im Film in Form des deutschen Agressors, der die kleine Gesellschaft aus der Hinterwelt zwingt. In Wirklichkeit vielleicht eine Vorahnung dessen was zu Beginn der 90er im realen Yugoslawien passieren sollte.
Hochwertigstes Unterhaltungskino, schön erzählt und wunderbar ausgewogen in der Darstellung gesellschaftlicher und geschichtlicher Ambivalenzen.
Kult ist wie Nostalgie eine wertlose Tugend, ihre Vertreter träumen sich eine Vergangenheit schön von der man das Glück hatte sie selbst nicht zu erleben. Dieser Film kann mehr als das. Und wenn man schon nach Wegen sucht wie man musealen Spielstätten Leben einzuhauchen, deren Stammpublikum längst tot ist oder in die bequemeren Sitze des Multiplexe abgewandert ist, warum nicht mal mit einer ordentlichen Retrospektive yugoslawischen Kinos? Ich käme wieder!

PS: Vermutlich kriegt man daheim nicht die schöne Bildqualität des jüngst erworbenen neuen Projektors der Breitensser Lichtspiele zusammen, aber bei Interesse: „Ko to tamo peva“ gibts komplett auf Youtube, mit englischen Untertiteln.
 
 

zum gesamten Filmforum von „Wer singt denn da?“
zurück zur Userseite von deutobald