Tinselwood

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Forumseintrag zu „Tinselwood“ von Reinderl

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Reinderl (02.11.2017 22:54) Bewertung
Menschenspuren im Wald. Von Kolonialfriedhöfen und mystischen Flugzeugen.
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Blätter, Äste, Gras. Ein junger Mann baut damit. Er nimmt sich Zeit für jeden Handgriff, arbeitet konzentriert, mit Hingabe. Der Zuseher sieht zu. Dazwischen das Blätterdach, durch das die Sonne fällt. Die Farben des Waldes. Grün, braun. Es dauert, bis klar wird, woran der Mann arbeitet. Zwei Männer schaufeln Sand in ein Boot. Sie reden. Sie paddeln.

Marie Voignier, Professorin an der ENS der schönen Künste in Lyon und die Regisseurin des Films, nimmt uns mit in den afrikanischen Urwald. Im Südosten Kameruns an der Grenze zu Kongo-Brazzaville haben sich zwei europäische Staaten, Frankreich und Deutschland, die Kolonialherrschaft geteilt. Die Deutschen haben ihr Kolonialland mittlerweile verlassen und nur ein völlig überwucherter Friedhof mitten im Wald, um den sich Geschichten von dort versteckten Reichtümern ranken, und Untiefen im Fluss, wo Wege abgeschnitten werden sollten, zeugen von der früheren Präsenz. Im Holzabbau und Bodenschatzabbau sind heute noch hauptsächlich französische Firmen tätig, daneben eine japanische und chinesische.

Diese Entwicklungen berührt der Film aber nur im Vorübergehen, lässt sie nur in Bildern mitschwingen, wenn das einzige Licht in der Nacht weit und breit vom Fernseher in der Bar kommt, in dem ein chinesisches Programm läuft. Der Film konzentriert sich auf die Arbeit der Menschen, deren Anstrengung, deren Leben, schaut Kakaobauern beim Jäten eines Feldes und beim Anpflanzen neuer Bäume zu, fährt mit Riesentrucks, auf die Bäumen verladen werden, durch den Wald, ist beim Fällen eines Baumriesen dabei, filmt Zauberer, wie sie eine Zeremonie erklären und ein mystisches Flugzeug basteln. Die Geräusche des Waldes bilden den Hintergrund der Handlung, das Brummen von Insekten, Vögeln, das Geräusch der Ruder, die ins Wasser eintauchen und wieder auftauchen.

Der Film wirkt nicht dokumentarisch, sondern inszeniert, und das ist gewollt. Marie Voignier sagt darüber im Gespräch, dass sie gar kein direct cinema machen wollte, sondern die Szenen, in denen die Menschen ihre Arbeit zeigen, gemeinsam erarbeitet wurden, eine Arbeit für das Kino mit Personen, die sie als Schauspieler ansieht. Frauen sieht man kaum (Ausnahme ist die Besitzerin des Kakaofeldes), da sie traditionell wenig in der Waldarbeit präsent sind, und Voignier ihr besonderes Augenmerk auf den Wald und seinen Einfluss gelegt hat.

Die Künstlerin lernte die Menschen dort 2012 kennen, als sie Michel Ballot, einen Kryptozoologen, auf seiner Suche nach dem legendären Mokélé-Mbembé, einem Tier, das eine Mischung aus Rhinozeros, Schlange und Krokodil sein soll, begleitete. Aus diesem Projekt entstand ihr Film „L’hypothèse du Mokélé-Mbembé“. Bei der späteren Lektüre des Buches einer afrikanischen Autorin über die Geschichte der Kolonialherrschaft in diesem Gebiet, die mit Zwangsarbeit einherging, entstand dann die Idee, dieselben Personen zu ihrer Arbeits- und Lebenssituation und den noch heute spürbaren Einflüssen der (ehemaligen) Kolonialmächte zu interviewen.

In der Art und im Fluss der Einstellungen, der Abfolge der Szenen im Film spürt man die Künstlerin, die das Material auch selbst geschnitten hat. Wenn in der Schlussszene die Nacht über den Wald und die zwei, drei von Menschen gemachten Holzkonstruktionen darin, die ein zu Hause bilden, hereinbricht und in diesem Dunkel ein Schwein von einer Seite zur anderen läuft, ist das ein Bild, das dem Zuschauer etwas hinterlässt, das er so schnell nicht abschüttelt.
 
 

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