3/4

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Forumseintrag zu „3/4“ von Orson

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Orson (28.10.2017 12:49) Bewertung
Auf der Suche nach dem verlorenen Rhythmus
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Stadtkino im Künstlerhaus, Nachmittagsvorführung. Während der Film noch läuft, nehme ich mit der Ecke meines Auges jemanden wahr, der mit Hilfe seines Handys im Viennale-Programm stöbert. Zur gleichen Zeit höre ich wie ein anderes Publikumsmitglied schnarcht, begleitet von einer weiteren Gruppe, die lautstark gähnt. Und all das wegen einem bulgarischen Drama, in dem auf den ersten Blick nichts passiert. Wenn diese Leute nur wüssten, wie viel extremer Filme noch sein können...

„3/4“, das Spielfilmdebüt von Ilian Metev hat das nicht verdient – und diese Behauptung bezieht sich nicht auf die Tatsache, dass er das Locarno Film Festival heuer mit dem Goldenen Leoparden für den besten Debütfilm verließ.

Dieser Film ist die Aufzeichnung einer Familie zu einer genau bestimmten Zeit. Während das Schicksal der Mutter weitgehend im Unklaren bleibt, verfolgen wir den Vater und die gemeinsamen zwei Kinder. Der Sohn (Nikolay Mashalov) befindet sich tief in der Pubertät und rebelliert gegen jeden und alles, natürlich vor allem gegen die dumme Schule, den schuldigen Vater und die streberhafte Schwester. Die Tochter (Mila Mihova) ist introvertiert, ängstlich, ambitioniert und talentiert und steht kurz vor einem Vorspielen für die Aufnahme an einer Musikakademie in Deutschland. Der Vater (Todor Veltchev), ein Physikprofessor, ist mit der Situation restlos überfordert und gerät bei jeder Veränderung ins Wanken.

Mit 3/4 assoziiert man vielleicht am ehesten den Walzertakt. Natürlich kann man die Geschichte musikalisch angehaucht betrachten. Nicht nur weil die Protagonistin Klavier spielt, sondern auch weil sie in einem Moment ihrem Bruder einen bedeutungsschwangeren Vorschlag macht: sie will, dass sie einen gemeinsamen Rhythmus finden. Den Titel kann man jedoch auch anders lesen. Alle Figuren in diesem Film sind zu dem gegebenen Zeitpunkt unvollendet, allen fehlt etwas zum Glücksgefühl, alle geben die Schuld für diesen Zustand jemand anderem als sich selbst.

Dieser kontemplativ gehaltene Film ist kein Meilenstein, aber er funktioniert. Nicht nur als Porträt einer Familie, die zusammen erwachsen werden muss und dafür vielleicht zuerst Abstand benötigt. Sondern auch als Bestandaufnahme einer weiteren osteuropäischen Gesellschaft, in der nach dem Fall des Kommunismus nicht alle gewonnen haben, weswegen aus Mangel an Zusammenhalt der Westen immer wieder attraktiv wird. Um all das zu verstehen, muss man jedoch bereit sein genau hinzuhören. Der Regisseur gibt uns die Möglichkeit dafür, nutzen wir sie. Vielleicht lernen wir doch auch was über uns selbst.
 
 

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