Tesnota - Closeness

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Forumseintrag zu „Tesnota - Closeness“ von Reinderl

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Reinderl (27.10.2017 08:46) Bewertung
Wie eng und weit ein Gesicht sein kann, wenn es uns eine Geschichte erzählen will
Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Das an- und abschwellende Rauschen eines Radios. Ein Mädchen in Latzhosen, Schlieren im Gesicht, das unter einem Auto liegt und daran herumbastelt. Der dritte Film von Kantemir Balagov, der bei Alexander Sokurow studiert hat, entführt uns direkt in den Alltag von Ilana (Darya Zhovner), die ihrem Vater Avi (Artem Tsypin) in der Autowerkstatt hilft. Wo er sich eine Bestellung nicht exakt gemerkt oder aufgeschrieben hat oder ein Ersatzteil nicht findet, springt sie ein. Sie denkt für ihn mit. Die Vater-Tochter-Beziehung enthält ein Necken, ein liebevolles Kümmern, weckt gleichzeitig das Gefühl, der Vater wäre ohne seine Tochter fast aufgeschmissen. Im bärtigen Vater- und dem kantigen Tochtergesicht spiegelt sich die gegenseitige Zuneigung. Ilana ist zufrieden, wenn sie an den Autos herumschraubt.

Am Abend, wenn die beiden nach Hause fahren, sitzt Ilana selbstverständlich am Steuer. Ihr Bruder David (Veniamin Kats) wird sich verloben, in der Küche laufen die Vorbereitungen für den Besuch von Lea, seiner Verlobten, und deren Eltern auf Hochtouren. Ilana soll die Karotten schneiden und sich ein Kleid anziehen. Die Entfremdung und der Konflikt mit ihrer Mutter (Olga Dragunova) werden sofort augenscheinlich. Widerwillig ordnet sie sich den Wünschen der Mutter unter. Die Beziehung zum Bruder, mit dem sie vor dem Haus eine Zigarette geraucht hat, scheint ambivalent, geprägt von Zärtlichkeit und Rivalität. Beim Tanzen nach dem Essen entzieht sie sich einem jüdischen Verehrer, kann es kaum erwarten, aus dem Fenster zu klettern und ihren Freund Zalim, der nicht zur jüdischen Gemeinde gehört, zu treffen. Sie becirct ihn mit von zu Hause gestohlenen Snickers-Riegeln, einer Cola-Flasche und wilden Küssen.

Bis hierhin also die nicht so ungewöhnliche Geschichte der Rebellion einer jungen Frau gegen ein traditionelles Rollenverständnis im Kreis der Familie und der religiösen Gemeinschaft. Die Situation spitzt sich allerdings zu, als Ilanas Bruder David und seine Freundin Lea entführt werden. Um das Lösegeld aufzubringen, muss die Familie Opfer bringen und Ilana soll eines dieser Opfer werden.

Darya Zhovner spielt die Rolle der Ilana so echt, dass man sofort hineingezogen wird in die Welt dieser jüdischstämmigen jungen Frau. Den Zwiespalt in ihrem Wollen, die Zuneigung zu ihrer Familie, die Zwänge, denen sie sich ihnen zuliebe aussetzt, gegen ihre Lust, ihre Liebe, ihren Freiheitsdrangs, die Neugier auf das Andere, den Anderen, der nicht zur eigenen Religionsgemeinschaft gehört, sondern einer anderen Volksgruppe an, außerhalb der gesellschaftlichen und familiären Enge, all das setzt der Regisseur auf dem Gesicht von Darya Zhovner in Szene. Großaufnahmen, in denen sich ihr Ausdruck verändert, wenn sie beispielsweise bei ihrem Freund eine halluzinogene Substanz trinkt, wenn sie sich im Drogenrausch findet und gleichzeitig verliert, der Wechsel von einem völlig erstarrten Gesicht zu einem, das sich im Weichsein auflöst, dann in Stumpfheit übergeht, ziehen den Zuschauer in die Gefühlswelt von Ilana. Wenn man ihr Profil und das ihres Vaters durch die Autoscheiben hindurch sieht, in denen sich die Landschaft spiegelt, und der Schatten der Bäume ihre Gesichter entzweischneidet, scheint sogar die Landschaft den inneren Konflikt abzubilden, zu zeigen, wie sich Menschen in der Liebe gegenseitig zerschneiden können. Die Szene, in der die Kamera den Hals der Protagonistin filmt, in dem das Blut wild klopft, lässt uns an eine Ilana denken, die kurz davor ist überzukochen, zu platzen.

Brutale Szenen und Dialoge wechseln einander ab mit Szenen von großer Zartheit. Auch die Landschaft, Sozialbauten und einzelne Häuser, zeigt die Enge und die Weite, spiegelt die Beziehungen in der Familie. Kantemir Balagov ist mit „Tesnota“, der 2017 in Cannes Premiere hatte und für die Caméra d’Or nominiert war, ein großartiger Film gelungen. Wir folgen Darya Zhovner willenlos durch die Geschichte, in der essenzielle Themen wie Familie, Rebellion und Aufbegehren, Heimat und Heimatlosigkeit so thematisiert werden, dass es weh tut.
 
 

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