Carol

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Forumseintrag zu „Carol“ von patzwey


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patzwey (27.05.2015 14:37) Bewertung
Stimmiges Gesamtkunstwerk
Exklusiv für Uncut aus Cannes 2015
Die „Carol“ zugrunde liegende Geschichte „The Price of Salt“ stammt aus der Feder von Patricia Highsmith. Doch im Gegensatz zu Ripley & Co schien sich der Stoff zunächst bei Filmschaffenden nicht besonders großer Beliebtheit zu erfreuen. Im Jahr 2000 entstand das Drehbuch zum Film. Es dauerte noch weitere 15 Jahre, bis die beeindruckende lesbische Liebesgeschichte unter der Regie von Todd Haynes in Cannes seine Premiere feierte und schnell zum Kritikerliebling avancierte. Dass Haynes ein Experte für die Inszenierung vergangener Welten ist, hat er bereits mit „Far From Heaven“, „I’m Not There“ sowie mit der Mini-Serie „Mildred Pearce“ unter Beweis gestellt. So ist in „Carol“ vor allem auch die liebevolle Inszenierung der 50er Jahre bemerkenswert. Die Verwendung von 16mm-Material soll die zeitliche Distanz zum Jahr 2015 unterstreichen.

Getragen wird der Film von den beiden Hauptdarstellerinnen. Cate Blanchett und Rooney Mara befinden sich in Höchstform und empfehlen sich bereits jetzt für die Award-Season. Die Eine (Blanchett als Carol) als wohlhabende, starke Frau, die Andere (Mara als Therese) als zunächst schüchterne Verkäuferin mit künstlerischen Ambitionen. Die beiden Frauen fühlen sich schnell zueinander hingezogen. Die Ältere der beiden hat bereits lesbische Erfahrungen gesammelt, für die Jüngere ist alles neu. Carol „vergisst“ einen Handschuh im Laden – ein Vorwand sich wieder zu sehen.

Beide leben in einer Beziehung zu einem Mann. Während sich Carol scheiden lassen möchte, ist Therese verlobt. Recht glücklich ist sie jedoch nicht. Bedingungslos werden die Männer sowohl auf visueller als auch auf narrativer Ebene zu Nebendarstellern degradiert. Die Selbstverständlichkeit mit der das geschieht ist beeindruckend. Bei den beiden brillanten Hauptdarstellerinnen sind sie überflüssig, stören sogar. So etwa Carols eigentlich gutherziger Ehemann, der nicht von der starken Frau lassen kann. Als sie mit der Scheidung ernst macht, droht er ihr das gemeinsame Kind wegzunehmen – die dramatische Komponente in einem Film, der ansonsten ohne große, tragische Konflikte auskommt.

Carol und Therese experimentieren mit Gesten und Blicken, drücken damit aus, was in den 50er Jahren ein Tabuthema ist. Wer nicht den Moralvorstellungen der Gesellschaft entspricht wird ausgegrenzt. Ihre Liebe ist unerwünscht. Obwohl sie es schon lange wissen, dauert es noch lange, bis die Zuneigung zueinander angesprochen wird. Es ist auch eine Geschichte darüber den Mut dazu aufzubringen. „Darf ich dich etwas fragen“ flüstert Therese einmal ins Telefon. Doch die Frage bleibt ihr im Hals stecken, sie legt auf. Es sind Momente wie diese, die die innere Unsicherheit der Charaktere auf sympathische Art und Weise auf die Leinwand bringen. Wohin die Reise die beiden Frauen auf körperlicher Ebene führt, ist allen Beteiligten klar. Sie sind sich schon lange nahe, bevor sie sich näher kommen. Als es letztendlich soweit ist, scheint ihre Beziehung zu stagnieren. Sie driften wieder auseinander.

Haynes Liebe zu seinen Figuren ist bemerkenswert. Die Art, wie die Kamera den Charakteren folgt und das Zusammenspiel von Räumen und Identität zeichnen „Carol“ aus. Es ist ein in sich stimmiges Gesamtkunstwerk, eine verspielte Momentaufnahme im Leben zweier sympathischer Frauen. In der für US-Großproduktionen untypischen Inszenierung von Geschlechterrollen liegt die große Stärke des Films. Würde es sich um Mann und Frau handeln, wäre es eine simple Love-Story. Das ist es auch jetzt noch. Doch durch die Umkehr von genderspezifischen visuellen Narrativen bekommt der Film zusätzliche Tiefe. „Carol“ ist ein sehr simpler Film mit großer Wirkung. In seiner Einfachheit liegt die große Stärke des Films.
 
 

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